Wir müssen unsere Augen kaum mehr öffnen. Und unsere Herzen auch nicht. So endete die letzte Episode, in der es um Segen und Fluch moderner Navigationsmittel ging, die keinen blinden Fleck mehr übrig lassen auf dem großen Erdenrund. Es ist Zeit, das Unbekannte wieder anzunehmen. Ohne vorberechnete Route, die mir in Echtzeit ansagt, in wie vielen Kilometern Entfernung der nächste Dunkin Donuts ist.
Im Unvorhergesehenem, im Unvorhersehbaren liegt das Potential zum Abenteuer und das Moment der Freiheit.
Fliehen im positiven Sinne
Anders gesagt: Wir planen zu viel. Das fängt grundlegend damit an, dass viele Menschen zwar den Traum haben, eine Reise wie meine zu unternehmen, dieses Vorhaben aber nie in die Tat umsetzen. Weil Ihnen die Zeit fehlt. Oder das Geld. Oder die Ausrüstung. Oder der Mut. Oder irgendetwas dazwischen. Die Motivation hinter einer solchen Reise ist dabei oft ähnlich. Der Alltag, der einem auf die Füße steigt. Der einem keinen Raum zum Atmen lässt. Die ewige Routine unseres fein säuberlich geregelten Lebens. Reisen geschieht oftmals nicht als Eintritt in das Neue, sondern als Flucht vor dem Alten. Insofern brauchen wir vielleicht gar nicht den Mut, uns mit dem Unbekannten zu konfrontieren, sondern lediglich die Einsicht, dem Bekannten überdrüssig geworden zu sein.
Wer noch kein Geld, die falsche Ausrüstung oder einfach keine Zeit für eine solche Reise hat, obgleich er behauptet, er wolle eine solche Reise unternehmen, der ist vielleicht noch nicht fertig mit dem Alten, dem Bekannten. Freilich, es gibt etliche andere Gründe für das Reisen: sportlicher Ehrgeiz, kulturelle Neugierde, soziales Ansehen. Aber der basalste aller Gründe bleibt doch wohl dieser: Raus zu wollen. Raus da. Losfahren. Immer Richtung Horizont.
Die Lust an der Flucht
Bei wem sie nur groß und nagend genug ist, die Lust an der Flucht, der wird aufbrechen. Egal, wie viel Geld er hat, wie gut die Ausrüstung ist und wie vermeintlich knapp bemessen die Zeit. Wer hat gesagt, dass man erst dann eine Radreise unternehmen kann, wenn man sich ein hyperteurers Reiserad mit Highend-Austattung leisten kann? Peter Smolka, Wahlerlanger und legendärer Radreisende, der vier Jahre lang mit dem Rad durch die Welt fuhr, hat es vorgemacht: In Argentinien wurde sein Rad gestohlen. Und? Er fuhr mit einem klapprigen Ersatzrad weiter.
Der Nase nach
Reisen braucht keine jahrelange Planung, keine teure Ausrüstung. Nur eines, das braucht Reisen tatsächlich: Zeit. Zeit, die Dinge am Wegrand wahrzunehmen und nicht nur das Ziel vor unseren Augen. Zeit, in den Wind zu riechen und den Regen zu hören. Zeit, die Welt um uns und die in uns ganz und gar ineninander aufgehen zu lassen. Ein Meister im Reisen, der alles begriffen hätte, wäre wohl der, der sich sogar von seinem Ziel lösen könnte. Besser: Von dem notwendigen Zustand, ein Ziel haben zu müssen. Er wäre dann ganz und gar frei und könnte sich vollständig auf das Unbekannte einlassen, irgendeiner Richtung folgen. Einfach immer der Nase nach.
Reisen kann jeder!
Wir brauchen also weniger, als wir denken, um eine solche Reise anzutreten. Wir brauchen weder viel Geld noch teure Ausrüstung. Wir brauchen nicht einmal Mut. Nur Zeit. Zeit brauchen wir. Und die Erkenntnis, des Alten, Bekannten, überdrüssig zu sein. Wir müssen fliehen wollen, im positiven Sinne. Wir brauchen also kaum etwas. Ist das nicht eine Feststellung, die Mut macht, aufzubrechen? Reisen ist nicht schwer. Reisen ist nicht teuer. Reisen kann jeder!