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Online Wedding: Bis dass der Logout uns scheidet?

Pressemitteilung von Gamereactor am 17. Oktober 2016: „Niti“ und „Eli“ vom Clan „Midgard“ im kooperativen free2play-Shooter Warframe heiraten online![1]

Na und?

möchte man sich denken. Was hat ein Third-Person Online-Shooter mit dem Bund des Lebens zu tun? In den gemächlicheren, sozial weitaus kooperativeren Gefilden der MMORPGs mag das ja in den Spielkontext passen – aber in einem Shooter? Aber: Auf facebook gefällt geschlagenen 51.630 Personen das Vorhaben. Die Liste der über die Hochzeit berichtenden Plattformen ist lang, wer mag kann sich die Zeremonie auf youtube ansehen.[2] Und Entwickler Digital Extremes streamt das Ganze auch noch live!

Zeit also, sich einmal genauer mit dem Phänomen Online Wedding zu befassen.

Ferntrauung: Soweit nichts Neues

Die physische Anwesenheit des Brautpaares ist in den meisten Rechtsordnungen Voraussetzung für den Vollzug der Eheschließung. In § 1311 BGB heißt es: „Die Eheschließenden müssen die Erklärungen persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit [abgeben]“.

Das war aber längst nicht immer so. Gerade in adeligen Kreisen war die Handschuhehe – also die Eheschließung in Abwesenheit – bis weit ins 18. Jahrhundert hinein üblich. Einleuchtend, da Ehen aus politischen Überlegungen hin schneller geschlossen wurden als es dauerte, bis die glückliche Braut ihr standesgemäßes Gefolge zusammengeklaubt hatte, endlich in der Kutsche saß und dann noch die Reise mit durchschnittlich vier PS zurückgelegt hatte. Während Braut oder Bräutigam also noch im Vierspänner irgendwo über Feldwege schaukelten, wurden sie schon verheiratet.

Keine Anwesenheitspflicht

Heute besitzt die Ehe in Deutschland den dem romantischen Anlass so unpassenden Status des „personenrechtlichen Rechtsgeschäft“. Kurz: Bist du bei deiner eigenen Hochzeit nicht da, kannst du nicht heiraten. Ausnahmen gab es aber immer wieder. Gerade im Militär kommt es oft zu Ferntrauungen. Für die „Stahlhelmtrauung“ im zweiten Weltkrieg war eine vom Vorgesetzten beglaubigte, schriftliche Erklärung ausreichend, um eine Ferntrauung vorzunehmen. In Italien, Kolumbien, Mazedonien, Mexiko, Polen, Portugal, Spanien sowie in einigen US-amerikanischen Bundesstaaten und im Recht einiger islamischer Staaten ist die Fernhochzeit auch heute zulässig. Eine Praxis, die vor allem im US-amerikanischen Militär rege genutzt wird: 40% der Eheschließungen via Internet betrifft Militärangehörige. Aber auch zivile Liebespaare trauen sich zunehmend online. In den USA sind es insgesamt ca. 500 digitale Eheschließungen im Jahr – Tendenz steigend.

Die Proxy Marriage als Antwort auf das Global Village

Kein Wunder. Zwar wächst die Welt digital zusammen. Die faktische Reisedistanz zwischen einer Braut aus Texas und ihrem Bräutigam in Dhaka bleibt aber weiterhin bestehen.

Die Proxy Marriage ist die naheliegende Lösung im Global Village.

Das ist der eine Grund, warum „Niti“ und „Eli“ sich für die Online-Hochzeit entschieden haben: „[We] have friends from around the world. We had discussed ways of trying to get all of them there for our wedding, and came to the conclusion that it was impossible, we have friends in Denmark, Japan, America, Canada, Germany and England… it just wasn’t going to be possible to get everyone in one place“[3]. Das Problem der Distanz. Die Ferntrauung als Lösung. Dieser Ansatz ist so alt wie die blaublütige Heiratspolitik europäischer Adelsgeschlechter.

Mein Avatar und ich

Der andere Grund aber ist ein ganz anderer. Das Warframe-Brautpaar beschreibt ihn so: „We felt that our online persona really is us, it´s how we interact with the rest of the world […]. It [the online wedding] allows us to have our wedding in a place we call home“[4].

Es sind also nicht nur praktische Gründe, die für die Ferntrauung sprechen.

Es sind emotionale.

Die Identität der realen Personen „Niti“ und „Eli“ ist untrennbar mit der Identität ihrer Spielfiguren verbunden. Das Warframe-Paar gibt sich nicht nur virtuell das Ja-Wort, sondern auch real.

Das ist ein großer Unterschied zu vielen Online-Hochzeiten, die ausschließlich ingame vollzogen werden. Die Tradition hier ist lang: Ultima Online stellt ganze Hochzeitsdekorationen und –Outfits, die Kirchen in RuneScape sind beliebte Heiratslocations und in Maplestory muss das Brautpaar zunächst eine Echtgeld-Gebühr zahlen und sich dann in einem Quest auf die Suche nach dem Ehering machen, bevor eine Hochzeit möglich ist.

Viele virtuelle Ehepaare kennen nicht einmal den Namen des Anderen. Die Hochzeit ist ein von der Welt außerhalb des Spiels losgelöster Akt. Im Spiel bin ich verheiratet. „Draußen“ nicht. Zwischen Spiel und Realität liegt eine Grenze. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Logiken innerhalb des jeweiligen Systems nicht kohärent sind. Sie sind schlicht unabhängig voneinander: Ich kann mich in DayZ mit vollstem Einsatz als skrupelloser, zweckorientierter Killer inszenieren und entsprechend handeln und dennoch im realen Alltag moralisch einwandfreie Entscheidungen treffen. Das widerspricht sich nicht. Ich kann im Spiel heiraten, ohne dass das auf mein reales Leben irgendeine Auswirkung hat. Das Spiel ist ein Spiel ist ein Spiel. Und so weiter.

Wer will schon die Realität?

Aber genau das macht die Hochzeit von „Niti“ und „Eli“ bemerkenswert.

Die virtuelle Identität ist mit der Identität außerhalb des Spiels verschmolzen. Im Spiel finden die Akteure Ausdrucks- und Verwirklichungsmöglichkeiten, die sie in der realen Welt nicht haben.

Mit der Online-Hochzeit kann nicht nur das alte Problem der Distanz überwunden werden, sondern auch die individuelle Distanz zur faktischen Realität mit all ihren Unzulänglichkeiten. Krankheit, Hässlichkeit, Über- oder Untergewicht – alles kein Problem. Die Hochzeitsgäste in den heiligen (Hochzeits)hallen von Midgard an diesem 17. Oktober stecken allesamt in schimmernden Rüstungen, überall muskulös-geschmeidige Glieder. Kein Gramm Fett, kein bisschen Hässlichkeit. Auch kein betrunkener Onkel auf dieser Hochzeit, der irgendwann peinliche Geschichten erzählt. Nur Regor, oder eine Horde Orks im Falle von Ultima Online, die die Hochzeit crashen, aber natürlich heroisch zurückgeschlagen werden. Und die silberne Halle des Clans Midgard ist auch viel sakraler als die Wirklichkeit jedes städtischen Standesamtes, auf dem sich immer irgendjemand zu laut schnäuzen muss – und man am Ende über sein eigenes Kleid stolpert vor Aufregung. Die Realität kann oft weniger Sakralität bieten als jede durchschnittliche Festhalle von Skyrims Nordfesten bis zum Tempel von Helm in Baldur´s Gate II. K

Mein virtuelles Ich ist Ich!

Kein Wunder also, dass der virtuelle Charakter dem eigenen (Wunsch) Selbstbild mehr entspricht als der Typ jeden Morgen im Spiegel. Und ist nicht unser Online-Charakter viel mehr so, wie wir eigentlich ja sind, oder zumindest ein Teil von uns? Gewandter, geschickter, einnehmender. Einer – der nie stolpert. Mit dem wir Abenteuer erleben, anstatt zur Norma um die Ecke zu gehen und Dosenwürstchen zu kaufen? Unsere virtuelle Identität scheint oft erstrebenswerter als unsere reale. Kein Wunder also, dass wir spielen. Kein Wunder auch, dass „Niti“ und „Eli“ sich in der Form das Ja-Wort geben wollen, die sie ihrer Meinung nach am besten repräsentiert. In der sie sich am besten ausgedrückt fühlen. Als Spieler. Aber auch als Menschen: „Now, not only can people be there who normally couldn´t, but also they can be there in a form that allows them to express who they fell they are, which makes the whole event much more personal for us than everyone turning up in suits and ties“[5]. Mein virtuelles Ich ist Ich! Die virtuelle Identität ist mit der Identität außerhalb des Spiels verschmolzen.

Die virtuelle Trauung ist kein bloßer Akt im Spiel mehr, sondern die Erweiterung der Realität auf das Spiel selbst.

Rettet das Spiel vor der Realität!

Welche Auswirkungen hat das auf den Status von Handlungen in Spielen? Es gibt dem Spiel eine völlig neue Verbindlichkeit und Ernsthaftigkeit. Wenn mein Ich außerhalb und mein Ich im Spiel eins sind, kann ich nicht mehr einfach durch Chernarus rennen und Leuten auflauern aber außerhalb moralisch einwandfrei handeln. Es kommt zum Widerspruch zwischen meiner virtuellen und realen Identität eben deshalb, weil sie plötzlich identisch sein müssten, damit ich keine Kohärenzprobleme mit meinem eigenen Selbst bekomme. Kurz gesagt: Wenn ich im Spiel meinen Ehepartner betrüge, bin ich zunächst schlicht unmoralisch im Spiel.

Wenn aber das Spiel zu sozial verbindlichem Gebiet wird und mein virtuelles Ich und mein reales Ich nicht mehr zu trennen sind, bin ich nicht mehr nur im Spiel unmoralisch. Ich bin dann unmoralisch per se. Punkt.

Games sind eine einzigartige Möglichkeit des Selbstausdrucks. Ja. Aber das sind sie eben deshalb, weil sie außerhalb realer Verpflichtungen stehen. Weil wir spielen können, ausprobieren. Auch Böse sein. Falsche Entscheidungen treffen. Unmoralisch eben. Weil unsere Identitätsmöglichkeiten im Spiel zahllos sind. Genau aus diesem Grund findet eine Hochzeit wie die von „Niti“ und „Eli“ auch statt. Weil sie in der Welt von Warframe eine Identität gefunden haben, durch die sie sich ausgedrückt fühlen. Nun wird auf das virtuelle Spiel ein der Realität entlehnter Mechanismus gepackt – die Heirat als urtraditionelles Ritual. Und genau dadurch wird das Spiel eingegrenzt. Das Spiel lebt durch die Abgrenzung von der Realität. Indem diese Grenze verschwimmt, kommt in das Game eine Ernsthaftigkeit, die weniger Spielraum lässt für das Game selbst. Ein „historischer Moment für das Game“ meint eine Kommentatorin der Hochzeitszeremonie. Weil das Spiel durch die Hochzeit nicht mehr nur als Spiel wahrgenommen wird sondern als alternativer sozialer Lebensraum, der das Spiel hochwertet.

Ich meine, genau das Gegenteil passiert: Das Spiel wird entwertet, weil die Realität es plötzlich für sich in Anspruch nimmt. Wir heiraten online, weil wir die Realität nicht wollen. Weil wir nicht stolpern wollen.

Warum bringen wir das Stolpern jetzt selbst ins Spiel?


[1] http://www.gamereactor.de/News/355543/Heute+Abend+grosse+Hochzeit+in+Warframe.
[2] https://www.youtube.com/watch?v=zuwDD4I_v1M.
[3] http://thegg.net/hot-news/you-are-invited-to-a-warframe-wedding.
[4] ebda.
[5] ebda.

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Der "War On Bullshit" oder: Wo ist die Lüge hin? Politischer Diskurs im postfaktischen Zeitalter

Am 28. September 2015 verkündete Trevor Noah die Fortsetzung des „War On Bullshit“.
Der gerade mal 32-jährige, aus dem südafrikanischen Johannesburg stammende, Comedian übernimmt nach sechzehn Jahren (!) John Stewart dessen Platz hinter dem Schreibtisch der The Daily Show.
Kaum vier Monate zuvor offenbarte sich Donald Trump, aus den güldenen Gefilden seines Rococo-Penthouses in Trump Tower, 725 Fifth Avenue, herabsteigend, auf der berühmten Rolltreppe ebenda, als  Präsidentschaftskandidat für den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Nun sind es noch sechsundzwanzig Tage bis zur Wahl am 8. November und es bleibt nur eine Frage: Wo ist eigentlich die Lüge hin?
Diese Frage erscheint erst einmal überraschend. Beide Wahlkampflager bezichtigen den jeweils anderen als Lügner („Crooked Hillary“) und beide Seiten haben ihr Päckchen an Unwahrheiten zu tragen. Zweifelsohne. Die US-Medien und soziale Netzwerke fact-checken rund um die Uhr. Und trotzdem: Die Wirkung, wenn eine Lüge als solche entlarvt wird, hält sich oft überraschenderweise in Grenzen. Trump hat nachweislich den Klimawandel bestritten, Position für den Irakkrieg bezogen und ist rassistisch und sexistisch ausfällig geworden. Er bestreitet all das. Die Fact-Checker in Medien und Öffentlichkeit verweisen verzweifelt auf die Fakten, auf die Wahrheit. Und natürlich haben sie Recht.
Aber genau hier liegt das Problem.
Fakten sind obsolet im postfaktischen Zeitalter.
Und vielleicht ohne es zu wissen, hat Trevor Noah mit der Wahl des Begriffs „Bullshit“ ins Schwarze getroffen.
Trump ist kein Lügner, sondern ein „Bullshitter“.
In seinem Essay „On Bullshit“ (2005) zieht der Philosoph Harry Frankfurt die Grenze zwischen „Bullshit“ und Lüge. In einer Anekdote von Fania Pascal besucht der Philosoph Ludwig Wittgenstein seine Kollegin und Freundin, die gerade an den Mandeln operiert worden ist und nun im Krankenbett liegt. Als sie klagt, sie fühle sich wie ein überfahrener Hund, antwortet Wittgenstein angewidert („disgusted“[1]), sie habe ja keine Ahnung, wie sich ein überfahrener Hund fühle („You don´t know what a dog that has been run over feels like“[2]). Pascal sieht nur noch Fragezeichen. Wittgensteins Reaktion ist mehr als nur unangebracht. Sie ist schlicht rätselhaft.
Was in Pascals Aussage ist es, das ihn so aufregt? Natürlich weiß Pascal nicht, wie sich ein überfahrender Hund fühlt. Aber lügt sie deshalb? Regt Wittgenstein sich vielleicht über die Aussage auf, weil er sie für eine Lüge hält? Aber wenn das eine Lüge wäre, wären alle Metaphern und Vergleiche, die wir im Alltag von uns geben, Lügen. Das ergibt kaum Sinn. Wir würden nur dann sagen, Pascal lüge, wenn sie etwa behauptet, sie fühle sich wie ein überfahrener Hund, obwohl sie sich eigentlich topfit fühlt. Wittgenstein wirft ihr also nicht vor, dass sie lüge.
Was aber dann?
Das Problem ist der Anteil an „Bullshit“ in Pascals Aussage. Anstatt den von ihr erlebten Zustand schlicht  mit „mir geht es schlecht“ zu beschreiben (und dann auszuholen), wählt Pascal einen exzessiv spezifischen Vergleichswert („wie ein überfahrener Hund“), der sich um Wahrheitswerte nicht kümmert. Es ist keine Lüge, weil der Wahrheitswert als Maßstab in dieser Aussage schlicht unwirksam ist. Pascal lügt ja nicht, weil sie sich eben irgendwie so schlecht fühlt wie sich ein Hund unter gegebenen Umständen fühlen muss. Das ist keine Lüge.
Der Vergleich ist schlicht „Bullshit“, weil er sich eben nicht bemüht, real zu sein, d.h. sich um Wahrheitswerte zu bemühen: „Her fault is not that she fails to get things right, but that she is not even trying“[3].
Pascals Aussage entzieht sich dem binären System wahr/falsch und damit der Frage nach Wahrheit/Lüge. Weder ist sie davon überzeugt, dass ihre Aussage wahr ist (sie weiß ja, dass sie eben nicht weiß, wie sich der überfahrene Hund fühlt), noch ist sie davon überzeugt, dass sie falsch ist (dann würde sie ja lügen, das gerade tut sie ja aber nicht). In Frankfurts Worten: „It is just this lack of connection to a concern with truth – this indifference to how things really are – that I regard as the essence of bullshit“[4].
Damit sind wir abgelöst vom System Wahrheit/Lüge und mitten drin im „Bullshit“. Einziger Referenzpunkt hier: Subjektive Wahrnehmung.
Natürlich ist es gelogen, wenn Donald Trump die Arbeitslosigkeitsrate in den USA regelmäßig mit bis zu 42% beziffert (tatsächlich 5,1%). Aber in einem Diskurs, der die Sphäre des binären Systems Wahrheit/Lüge verlassen hat und in der Umlaufbahn des A-faktischen, des „Bullshits“, schwebt, ist das eben deshalb nicht gelogen, weil der dazugehörige Maßstab schlicht nicht mehr existiert. Als würde man mit einer rein schwarzen Farbpalette einen Baum malen wollen. Wir wissen, dass wir grün brauchen, dass Bäume grün sind und dass das die Wahrheit ist. Ist aber irrelevant. Es gibt halt nur Schwarz.
Im postfaktischen Diskurs geht es also nicht um eine Verneinung der Wahrheit. Es geht nicht darum, dass Fakten, d.h. die Frage nach Wahrheit/Lüge ignoriert werden. Natürlich werden sie das. Genauso wie Pascal weiß, dass sie eben nicht weiß, wie sich der überfahrene Hund fühlt.
Es geht darum, dass die binäre Codierung Wahrheit/Lüge auf Faktenbasis nicht mehr die moralisch maßgebliche ist.
Der Referenzpunkt dafür, ob etwas wahr oder falsch ist, ist einzig und allein das subjektive Empfinden.
Genau das steht hinter Aussagen wie der von Georg Pazderski, Mitglied des Bundesvorstands der AfD: „Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht da drum, wie das der Bürger empfindet. Das heißt also das, was man fühlt, ist auch Realität[5]“. Genau deswegen bleibt Trumps magische 42%-Arbeitslosenmarke weiter wirksam, auch wenn sämtliche Fact-Checker sie wieder und wieder öffentlich zerlegen: Weil das subjektive Empfinden bestimmter Bevölkerungstruppen u.a. durch Trump genau in diese Richtung gelenkt wird.
Ängste, die sich unabhängig von Fakten gebildet haben, können durch Fakten nicht zerstreut werden. Die Wahrheit ist kein wirksamer Referenzpunkt mehr. Es ist egal, wie die Realität wirklich ist, weil nur unsere subjektive Wahrnehmung eine Realität bildet, die relevant ist.
Genau deshalb hilft all das fact-checken nicht. Fakten sind nur dann relevant, wenn sie als Maßstab anerkannt werden, ob etwas wahr oder falsch ist. Im postfaktischen Diskurs geht es aber gar nicht mehr um die Frage nach wahr oder falsch.
Es geht darum wie wir uns fühlen, unabhängig davon, ob wir das aus gerechtfertigten Gründen tun.
Ungefähr so, als würden wir das kleine Kind beruhigen, dass es keine Angst vor dem Monster unter dem Bett zu haben braucht, weil unter dem Bett kein Monster ist. So richtig hilft das manchmal nicht. Da helfen auch die Fakten nichts. Weil das Monster unter dem Bett in der Realität des Kindes eben unter dem Bett bleibt, so sehr wir es auch daraus hervorholen. Das ist in Ordnung. Das ist normal. Für ein Kind. Im postfaktischen Diskurs scheint dieses infantile Merkmal im Umgang mit Fakten auf ganze Bevölkerungsteile übergesprungen zu sein.
Am Ende wünscht man sie sich beinahe zurück, die gute, alte Lüge. Die, sobald entlarvt, als valides Argument gilt, sich von bestimmten Meinungen zu verabschieden und anderen zu folgen. Aber der „Bullshit“ geht weiter, weil er schlicht deswegen nicht widerlegt werden kann, weil er sich außerhalb der Logiken des Verifizierens/Falsifizierens bewegt. Der Fact-Check ist machtlos gegen „Bullshit“.
Aber wie darauf adäquat reagieren?
Michelle Obama hat mit ihrem Credo „When they go low, we go high“ sicherlich moralisches Oberwasser. Aber letztlich kommt genau darin die Hilflosigkeit zum Ausdruck. Was sie meint ist: Wenn Trump lügt, dann sagen wir umso mehr die Wahrheit. Das Problem ist aber eben genau das: Der Diskurs findet außerhalb der Kategorien Wahrheit/Lüge statt. Michelle Obama fordert also zu einer Reaktion auf, die nur dann funktioniert, wenn beide Seiten inerhalb derselben Logik agieren – Wahrheit/Lüge mit dem Faktischen als Bezugspunkt. Trump handelt aber in der Logik des „Bullshit“. Das ist, als würde ich ein Feuer nicht mit Wasser löschen wollen, sondern mit der rechnerischen Beantwortung der Frage ob Hummeln unter bestimmten Bedingungen tauchen könnten. Schlicht: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun und kann also keine wirksame Antwort darauf geben.
Es bleibt zu hoffen, dass der Diskurs, wenn nicht zum Faktischen, dann doch zumindest zur Lüge zurückfindet. Denn: Einen Konsens in einer Gesellschaft zu erreichen, die nicht nur unterschiedliche Voraussetzungen im Bereich des faktischen Wissens hat und daraus subjektiv verschiedene Konsequenzen zieht, ist schon schwer genug. Einen Konsens in einer Gesellschaft zu erreichen, in der das subjektive Empfinden der einzige Referenzpunkt für Realität ist, ist unmöglich.
Das erste wäre in etwa so, als gäbe es in unserer Farbpalette nur Graustufen und man will einen Baum malen. Alle streiten sich, ob jetzt dieses Grau oder jenes Grau dem idealen Baum näher komme. Aber alle sind sich zumindest einig, dass Bäume grün sind. Und verdammt, jetzt haben wir zwar kein Grün, aber doch alle den gleichen Referenzpunkt.
Anders beim zweiten Fall. Auch hier gibt es nur eine Farbpalette mit Graustufen und auch hier soll wieder ein Baum gemalt werden. Nun meint der eine aber, Bäume sind pink mit Bonbons daran. Der andere meint, nein, Bäume sind einfach nur große Katzen und ein dritter ist davon überzeugt, dass es Bäume überhaupt nicht gibt.
Wo wird ein gesellschaftlicher Konsens wohl wahrscheinlicher sein?


[1] Frankfurt, Harry (2005): On Bullshit. Princeton UP, S. 6.
[2] ebd. S.6.
[3] ebd. S. 8.
[4] ebd. S. 8.
[5] http://www.hr-online.de/website/radio/hr-info/index.jsp?rubrik=47572&key=standard_document_62098268.

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Brandneu

Heart of Darkness in 8-bit. The Curious Expedition

 

Eigentlich geht es nicht um die goldene Pyramide. Es geht um die Unsterblichkeit in den Annalen der Historie. Um die Vermessung der Welt. Um unseren Namen in den Geschichtsbüchern kommender Generationen.

Schlicht: Es geht um Ruhm.

Und so ziehe ich los, in den Schuhen der großen Marie Curie, den letzten nicht kartographierten Gebieten der Erde ihre Geheimnisse zu entreissen. In 8-bit. In The Curious Expedition werden keine Welten vor Dämonen gerettet, keine Prinzessinnen befreit, keine Verschwörungen aufgedeckt. Nur der Drang nach dem, was wohl hinter der nächsten Ecke, hinter dem Fog of War wartet, entdeckt zu werden, treibt mich voran. Mich und meine Gefährten: Der beleibte Priestermissionar Bruder Virgil, der schottische Soldat Raibeart MacQuarrie, mein treuer Jagdhunde Rocky und mein Packesel – Ms. Overton.

Nach Wochen auf hoher See schält sich aus dem Nebel endlich eine Küstenlinie: Unbekanntes Land. Mein 8-bit-Herz beginnt heftiger zu schlagen. Gleich gehen wir von Bord, ohne noch die Wasservorräte aufzufüllen. Unvernünftig, vielleicht. Aber der Dschungel scheint voller Wasserlöcher zu sein und das Abenteuer drängt.

Im Gänsemarsch schlagen wir uns durch dichten Dschungel, hohes Grasland, über Berge und durch Sümpfe. Mit jedem Schritt lichtet sich der Fog of War vor uns. Fragezeichen erscheinen lockend auf der Karte, Versprechen von Ruinen voll mit antiken Schätzen und uralten Geheimnissen.

Sie treiben mich voran, weiter hinein in das Herz der Finsternis.

Zuerst bemerke ich kaum den Balken, der mit jedem Schritt schrumpft.

Sanity.

Nur noch über den nächsten Berg – aber da ist der Balken leer.

Eine bedrohliche Melodie umgibt die nun folgende Szene.

Es ist Nacht, wir stehen um das Campfeuer, Ms. Overton ein wenig abseits, als Bruder Virgil anfängt.  Kaum Essen hier draußen. Und zwei Tiere. Warum nicht eines schlachten? Warum nicht ein bisschen frisches Fleisch? Ich lehne ab. Schnell zwei Tafeln Schokolade. Der Sanity-Balken füllt sich. Erstmal ist das Thema vom Tisch. Aber ich habe nicht übersehen, wie Bruder Virgil mir hinterher gesehen hat. Noch habe ich zwei Tafeln Schokolade im Gepäck. Was, wenn die verzehrt sind?

Der nächste Morgen. Tief in den Bergen entdecken wir eine verlassene Höhle. Meine Fackel brennt hell in der Dunkelheit. Leere Kisten, Skelette dazwischen. Die Knochen sind aufgebrochen, das Knochenmark ausgesogen. Eine gescheiterte Expedition. Schnell verlassen wir die Höhle.

Vor uns liegen mehr Berge, der Aufstieg zehrt an den Kräften. Die Sanity schwindet unter meinen Fingern. Da vorne ist ein Dorf.

Schnell.

Schnell.

Der Balken leuchtet rot. Eine Tafel Schokolade. +10 Sanity. Aber nun dichter Dschungel zwischen dem Dorf und uns. Es sind zu viele Schritte. Zu weit. Noch eine Tafel Schokolade.

Die letzte.

Es reicht nicht.

Wieder die bedrohliche Melodie. Wieder finsterste Nacht. Bruder Virgil ist in eine Speerfalle getreten. Seine Wunde eitert. Wir schleppen uns weiter. Das Dorf ist so nah. Ein paar Schritte weiter, mit leerem Balken, unablässig rot leuchtend. Wieder die Campszenerie. Die Schrecken der Reise haben Bruder Virgil so sehr mitgenommen, dass er die Hälfte unserer Ausrüstung verloren hat. Das Wasser wird knapp. Werden wir das Dorf jemals erreichen?

Der letzte Ausweg. Coca Blätter.

Sie bringen ein wenig Sanity zurück.

Aber auch pathologische Nebenwirkungen.

Wir kämpfen uns weiter.

Aber es ist zu spät.

In dieser Nacht schreit Bruder Virgil die Sterne an, sie seien zu groß. Zu groß. In seinen Augen ist zu viel weiß.

Bipolar.

Am nächsten Morgen erreichen wir endlich das Dorf. Die Einwohner beäugen uns mit Argwohn, aber sie lassen uns bleiben. Für diese Nacht. Wir füllen unsere Vorräte mit Mangos und beschenken die Einwohner. Die Stimmung lichtet sich.

Einer der Eingeborenen bietet an, sich unserer Truppe anzuschließen. Ich heiße ihn willkommen. Er kennt jeden Pfad hier, jeden Baum. Bruder Virgil tritt auf mich zu. Er will die Gruppe verlassen, habe sich in eine von den Eigeborenen verliebt. Wer bin, echter Liebe im Wege zu stehen?

Wir verlassen das Dorf ohne Bruder Virgil, mit unserem neuen Gefährten. Immer wieder drehe ich mich um. Ein Schatten scheint uns zu folgen. Ein Vorbote Übles? Nach einer Zeit gelangen wir an eine weitere Höhle.

Aber wir haben keine Fackel mehr. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denke ich noch.

Wir betreten die Höhle.

Lange Dunkelheit umfängt uns.

Am Ende schließlich Zwielicht. Ein Riss in der Wand. Gerade groß genug. Ich schicke Raibeart McQuarrie vor.

Wir warten.

Und warten.

Aber er kommt nicht wieder.

Schließlich verlasse ich die Höhle. Meine Sanity bleibt mit Raibeart McQuarrie in der Dunkelheit zurück.

Die Mangos halten zwei Tage.

Wir übernachten unter einem überhängenden Felsen, der Wind laut in der Nacht. Ich erwache von einer Hand auf meinem Arm. Als ich die Augen öffne, sehe ich Raibeart McQuarrie vor mir.

Ein Geist?

Nein. Irgendwo ist er aus der Höhle entkommen. Gemeinsam dringen wir immer tiefer in den Dschungel vor. Der Wald um uns wird immer dichter, der Balken wieder rot.

Keine Schokolade, keine Mangos, keine Coca Blätter.

Nur ein paar Juwelen und ein goldener Kelch. Wertlos nun in ihrer ganzen Kostbarkeit.

Der Mond scheint grell in dieser Nacht, als ich von lautem Schmatzen geweckt werde. Unser Gefährte aus dem Dorf ist fort. Da sitzt nur McQuarrie am Feuer und nagt an etwas.

Es sieht aus wie – der Unterarmknochen eines Menschen.

In dieser Nacht finde ich keinen Schlaf. Der Dschungel scheint sich immer schwärzer um uns zu schließen, mit jedem Schritt leuchtet der Balken noch roter, noch bedrohlicher.

In der nächsten Nacht erwache ich von einem Schuss in der Dunkelheit. Ich renne zu McQuarrie. Aber ich finde ihn leblos am Boden.

In meiner Hand das Gewehr.

Meine Sanity ist endgültig verloren.

Am nächsten Morgen öffnet sich plötzlich der Dschungel vor mir. Auf einer Lichtung, in Sonne und Herrlichkeit getaucht die goldene Pyramide. Die Expedition ist zu Ende. Das Ziel ist erreicht.

Aber zu welchem Preis?

Zuhause die jubelnde Menge. Ruhm hallt mir entgegen. Aber das einzige, an was ich denken kann inmitten der jubelnden Masse ist der letzte Satz aus Joseph Conrads Heart of Darkness: „Das Grauen. Das Grauen“.

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Wenn der Safe Haven bröckelt. Suspense in Games

Dann plötzlich sehe ich ihn.

Er war noch nicht da, eben noch nicht da. Oder?

Zwischen den Bäumen die Gestalt: dürr, fahl, die Arme lang bis beinahe zum Boden, gesichtslos. Ein Ton wie zerberstendes Metall. Einmal. Das Flimmern läuft über den Bildschirm. Weißes Rauschen im Angesicht des Albtraums. Der Slender Man hat mich.

So beginnt Slender. Das Spielprinzip ist denkbar simpel: Finde acht Manuskriptseiten innerhalb eines begrenzten Gebietes, während eine albtraumhafte Kreatur auf deinen Fersen ist. Der Slender Man. Von Anfang an ist klar, dass der Slender Man überall, jederzeit auftauchen kann. Nur weiß der Spieler eben nicht, wann und wo. Und läuft entsprechend atemlos durch die spielerische Nacht. Wie kann ein derart simples Spielkonzept derart wirkungsvoll sein?

Hitchcocks Bombe und Games

Die Antwort finden wir beim Master of Suspense: Alfred Hitchcock. 1962, im berühmten Interview mit François Truffaut gibt er die Erklärung. Hitchcock unterschied zwischen Surprise und Suspense. Sein vielzitiertes Beispiel: Wenn eine unter einem Tisch versteckte Bombe, an dem gerade mehrere Leute sitzen, plötzlich explodiert und den Zuschauer schockiert, dann ist das ein überraschendes Ereignis, dessen Schreck aber nur kurz anhält (Surprise). Wenn der Zuschauer aber die Platzierung der Bombe beobachtet, die Lunte brennen sieht und zugleich weiß, dass die Leute am Tisch nichts davon ahnen, fesselt das Ereignis, wenn es dann eintritt, sehr viel nachhaltiger (Suspense).

Wir wissen, dass etwas passieren wird, nicht aber wann. Die Spannung steigt bis zum Unerträglichen, bis schließlich die Auflösung kommt und wir, die Zuschauer, erschöpft zurückfallen. Der Mechanismus ist so simpel wie effizient. Und er hält uns, wie es so schön heißt, on the edge auf our seats.

Nun sind Filme aber eben nur Filme. Suspense ist immer linear, schlicht weil es Filmen an Interaktivität mangelt. Kennen wir einmal das Ende von The Others (2001), löst sich die Suspense in Nichts auf. Die Story ändert sich ja nicht, die Momente des Suspense sind identisch, egal wie oft ich den Film sehe.

Anders bei Games.

Schauen wir uns Slender noch einmal an. Das Monster taucht immer wieder an anderen Stellen, zu anderen Zeitpunkten auf, während wir spielen. Zufallsgeneriert. Dieses Prinzip verursacht, dass wir in Bewegung bleiben, uns nervös umsehen, nicht wissen, wo der Slender Man als nächstes auftauchen wir. Es vermittelt ein Gefühl des Getriebenseins. Wir wissen nur, dass, nicht wo oder wann. Egal, wie oft wir spielen, wir bleiben on the edge auf our seats.

Die Suspense in Games schafft vor allem eines: Sie hält uns konstant unter Strom, weil der vermeintliche Safe Haven unter uns wegbricht. Mit einfachsten Mitteln wird dabei ein Spielmechanismus geschaffen, der uns lange unterhält, weil er uns im Ungewissen lässt.

Durch die interaktive Natur von Games sind wir dabei nicht mehr nur Zuschauer, sondern mittendrin. Wir sind die Leute am Tisch Hitchcocks, die mit der Bombe rechnen müssen. Über denen ständig das Damokles-Schwert schwebt.

Suspense ist so nicht mehr nur Narration, sondern Interaktion.

Und das nicht erst seit gestern.

Schnapp. Schnapp. Schnapp. Horror und Suspense

In Sierra Entertainments 1994 Titel King´s Quest 7: The Princeless Bride landen wir im vierten Kapitel des Spiels im Land Ooga-Booga. Der Name deutet es schon an: Hier treffen wir auf allerlei morbide Figuren – Dr. Cadaver, den kopflosen Reiter (auf der Suche nach seinem Kopf), die bösartigen Ghoul Kids und natürlich: den namensgebenden Boogeyman. Irgendwie müssen wir da schnellstens wieder raus und in bester King´s Quest Adventure-Manier heißt das natürlich: raus-rätseln. Dabei ist in Ooga-Booga-Land aber alles anders: Es bricht mit der rätselnden Gemächlichkeit von Point&Click Adventures.

Zu jeder Zeit, an jedem Ort in Ooga-Booga kann der Boogeyman auftauchen. Bleibt der Spieler zu lange inaktiv, scharrt sich etwas aus dem Boden unter ihm. Heraus kommt der Boogeyman: Ein untotes Monster mit einem breiten bösen Maul voller Zähne und einem Grinsen als hätte man es ihm in die Fratze geschnitten. Die Glieder lang und fahl. Es lauert noch einen Moment, grinst, dann fällt es den Spieler an. Ein Schrei der Spielfigur ist das letzte, was zu hören ist. Game Over. Obwohl eine klassische Adventure-Reihe, greift King´s Quest 7 in Ooga-Booga ein Spielelement aus dem Survival-Horror-Genre auf.

Ein Jahr später. 1995. Human Entertainment´s Clock Tower erscheint. Wir spielen die verletzliche Waise Jennifer, die in einem scheinbar verlassenen, viktorianischen Herrenhaus eine morbide Familientragödie aufdeckt. Immer auf ihren Fersen: Eine deformierte, grausige Kreatur mit einer riesigen Schere. Schnapp, schnapp, schnapp. Der Scissorman. Er springt aus Kisten, steigt aus Wannen und Pools mit Leichen darin, fällt über uns her von der Decke. Es scheint keinen Ort und keine Zeit zu geben, wo er nicht auftauchen kann. Und immer das Geräusch hinter uns: Schnapp. Schnapp. Schnapp. Wir rennen weg. Verstecken uns unter Betten, verriegeln Türen. Manchmal gelingt es.

Die meiste Zeit findet er uns.

Schnapp. Schnapp. Schnapp.

Rote Schrift auf schwarzem Bildschirm erscheint: DEAD END.

2014 – fast zwanzig Jahre später – funktioniert das Prinzip noch genauso. In Tango Gameworks The Evil Within muss der Spieler in einem Kapitel in einem scheinbar verlassenen, viktorianischen Herrenhaus (!) einen Türmechanismus durch das Lösen einiger Rätsel aktivieren. We fear no Evil und machen uns an die Suche, als plötzlich der bösartige Antagonist Ruvik erscheint. Wir drehen uns um, rennen. Er darf uns nicht erreichen. Wir verstecken uns unter Betten, in Schränken. Rennen und rennen. Und selbst als es still wird und wir unter dem Bett wieder hervorkriechen, wissen wir, dass er noch da ist. Irgendwo. Wir lauschen und die Hand auf der Maus/dem Controller schwitzt.

Das ist Suspense!

Womit wir beim Kern der Geschichte wären: Survival-Horror und Suspense gehen Hand in Hand. Die klassische Szenerie: Eine ganz und gar nicht omnipotente Spielfigur (im Gegensatz zu scheinbar unzerstörbaren Protagonisten wie Bioshock Infinites Booker DeWitt oder Dishonoreds Corvo Attano) muss sich durch oft klaustrophobische Level arbeiten, im Nacken albtraumhafte Antagonisten.

Besiegen kann man die nicht.

Es gilt das Gesetz des Monsters unter dem Bett: Die Augen ganz fest zukneifen und bis zehn zählen. Wenn das nichts hilft – und es hilft nie etwas: Dann kann man nur weglaufen, sich verstecken, den Atem anhalten und hoffen, dass es vorbeigeht.

Es ist nicht real.

Es ist nicht real.

Diese Art von Suspense verstört uns, weil sie unsere vermeintlichen Räume der Sicherheit zerbrechlich zeigt: Der tröstliche Schein der Taschenlampe in der Dunkelheit in Slender kann uns nicht schützen. Die Waffen unserer Spielfigur Sebastian Castellanos in The Evil Within sind nutzlos gegen Ruvik. In Oooga-Booga lauschen wir bei jedem Dialog, bei jedem Schritt auf die Geräusche im Hintergrund, hinter dem eigentlich ganz lustigen, nur ein bisschen morbiden Soundtrack der Spielregion, der uns in Sicherheit wiegt: War da ein Scharren? Kommt er, der Boogeyman?

Ikonisch und intertextuell die Zerstörung des vermeintlich sicheren Raums in Clock Tower: In einer Szene kann sich Jennifer in das Badezimmer retten und die Tür gerade noch hinter sich abschließen. In Sicherheit.

In Sicherheit?

Der Scissorman steht vor der Tür, holt aus. Die riesige Schere stößt ins Holz. Einmal, zweimal, dreimal. Dann fällt die Tür. Wer hört da nicht das „Here´s Johnny“ aus Stanley Kubrick´s The Shining (1980)?

Ikonisch sind dabei selten die Spielfiguren, sondern vielmehr die Monster, denen es zu entkommen gilt: Slender Man, Boogeyman, Scissorman, Ruvik aus The Evil Within. Ebenso, wie Jack Torrance alias „Here´s Johnny“ alias verückter Axtmörder im Gedächtnis bleibt, nicht die Menschen um ihn, die ihm zu entkommen versuchen. Es ist der Alb, der uns immer heimsuchen kann, dem wir nicht entkommen können, der uns in Angst hält. Der uns unter-hält.

Die Dekonstruktion des Safe Haven

Subtil ist das freilich kaum. Die Gefahr ist zwar allgegenwärtig. Aber sie kommt meistens von außen. Der Slender Man, der Boogeyman, der Scissorman und Ruvik. Sie alle sind Antagonisten, die unserem Protagonisten gegenüberstehen.

Es ist die vormoderne Geschichte vom Teufel. Ursprünglich als deviante Entität dem Menschen gegenüberstehend, muss sich der Mensch den Verlockungen und Gefahren dieses ultimativen Gegenspielers erwehren. Wer den Teufel sieht, der renne um sein Leben.

Erst später, mit Kants Formel von der  „Gebrechlichkeit des Menschen“[1], verlegt sich das Potential des Bösen in den Menschen selbst. Die teuflische Ikonizität ist jetzt eine primär Menschliche: „Das Böse hat seinen Sitz im Inneren des Menschen“[2]. Es ist nicht mehr eine feindliche Macht von außen, die den Safe Haven durchbricht. Der Spieler selbst ist es, der den Wahnsinn hereinlässt. Weil er schon immer in ihm verwurzelt ist.

Team Silents 2004 Titel Silent Hill 4: The Room versetzt den Spieler in Ego-Perspektive in ein von außen verriegeltes, farbloses Apartment. Es gibt keinen Weg hinaus. Im Badezimmer finden wir ein Loch in der Wand, durch das wir in eine Parallelwelt des Grauens gelangen. Immer wieder wechseln wir zwischen dieser Welt und dem Apartment. Im Apartment können wir Speicherstände anlegen, uns erholen, durchatmen. Die Blaupause eines Safe Havens.

Aber im Laufe des Spiels ändert sich das Apartment. Risse tauchen an den Wänden und Decken auf. Erst so unscheinbar, dass wir uns kaum sicher sein können, ob sie nicht schon vorher dagewesen waren. Jalousien beginnen zu rascheln, weißes Rauschen im Fernsehen im Wohnzimmer.

Und die Risse wachsen.

Wir können nicht mehr speichern, nicht ausruhen. Wir können nicht mehr durchatmen. Und wir sind uns ganz und gar nicht sicher, ob es nicht alles unsere Einbildung ist. Ob wir wahnsinnig werden.

Der sichere Raum zerfällt unmerklich um uns herum.

Hier erwartet uns die ultimative Dekonstruktion des Safe Havens. Und die Erkenntnis, wie subtil Suspense in Games sein kann.

Was uns in Silent Hill 4: The Room verfolgt, ist nicht der Boogeyman, sondern die stufenweise Auflösung unseres Gefühls der Sicherheit.

Das Böse erscheint als unabwendbarer Teil unserer eigenen Welt, unserer eigenen Identität. Kant hat schon lange gewusst, was bei Silent Hill 4: The Room auf so subtile Weise erschreckend wird: Das Böse wirkt als radikale Entität im Menschlichen selbst. Den mythologischen Teufel, der von außen unsere Sphäre der Sicherheit durchbricht, gibt es nicht mehr. Der Teufel ist nun Teil von uns selbst. Deshalb können wir ihn nicht besiegen. Deshalb ist der Safe Haven nur eine Illusion. Der Teufel wird zur Causa der Pathologie.

Und wir als Spieler mittendrin.


[1] Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hamburg: Felix Meiner 1956, S. 30.
[2] Probst, Maximilian: „Gemeines aus dem Oberseminar“ in: Die Zeit Nr. 43: 21. Oktober 2010, S. 51.
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Machinarium. The Good Robot

 
Wer Point&Click Adventures der Marke „Gesprächiger Typ rettet Welt und löst dabei absurde Rätsel“ bevorzugt, ist bei Machinarium falsch. Der Protagonist des Spiels, der etwas mickrig geratene Roboter Josef, hat weder den schelmischen Charme eines Gybrush Threepwood noch eines Rufus aus Deponia. Ja, er kann nicht einmal sprechen. Immerhin, die noble Aufgabe der Weltrettung kommt uns auch in Machinarium zu. Aber von Anfang an.

Neues vom Schrottplatz

Das Intro wirft uns im wahrsten Sinne des Wortes in media res in die Handlung. Über einer postapokalyptisch anmutenden Stadt erhebt sich ein bienenartiges Maschinenwesen, das uns samt diversem Schrott über besagtem Schrottplatz ausspeit. Bevor wir nun in unser Abenteuer starten können, müssen wir uns zunächst sammeln. Wörtlich gemeint. Josefs Teile liegen im Umkreis verteilt und wir müssen diese wieder zusammenbringen. Der Witz dabei ist, dass Josef einen sehr begrenzten Aktionsradius hat. Wir können nur mit Gegenständen und Charakteren in unserer direkten Umgebung interagieren. Zumindest aber kann Josef seinen Torso flexibel ein- oder ausfahren. Praktisch, wenn man an Gegenstände gelangen muss, für die Josef in seiner normalen Größe einfach zu klein ist, oder wenn man durch Öffnungen kriechen muss, für die er eigentlich wiederum zu groß ist.
Nachdem wir also unsere Tassen alle wieder im Schrank haben, geht es los zurück in die Stadt, aus der wir eben so unsanft entfernt wurden. Natürlich kommen wir aber nicht einfach so hinein. Der vor dem Stadttor positionierte Polizist gibt uns mit einem grunzenden Kopfschütteln und einer über ihm erscheinenden Sprechblase, in der ein durchgestrichener Josef erscheint, zu verstehen, dass nur Polizeiroboter Durchgang haben. Dialoge laufen so ausschließlich über Sprechblasen, in denen Bilder statt Text erscheinen.
Die Lösung liegt nahe: Wir müssen zum Polizeiroboter werden! Also zaubern wir aus einem kaputten Leitkegel, den wir in blaue Farbe tauchen, und der Glühbirne aus der Straßenlaterne über uns kurzerhand einen täuschend echt aussehenden Polizeihut. Zumindest täuschend genug für den wachhabenden Polizisten, der uns daraufhin in die Stadt lässt.

Josef und die bösen Jungs

Es beginnt eine Odyssee durch den tristen Moloch der Maschinenstadt, auf der wir die gemeinen Machenschaften einer dreiköpfigen Gangstergruppe aufdecken, die die Bewohner der Stadt böswillig quält. Als wir dann noch entdecken, dass die Pläne der Bösewichte viel weiter reichen und die ganze Stadt in Gefahr ist, ist es an uns, das zu verhindern.
Der Plot bietet insofern nichts Neues. Die Rettung der Welt bzw. das Abwenden von drohender Gefahr ist sicher eines der meist bemühten Themen der Spielgeschichte. Allerdings passt der drohende Untergang gut in den ästhetischen Kontext des Spiels. Die Stadt, und auch die umliegende Welt, scheint kaputt, bis auf die Grundfesten verrostet. Wen wundert es, dass eine solche Welt bösartige Schurken hervorbringt, die schlicht die Zerstörung als solche zu feiern scheinen? Ein Motiv jedenfalls scheinen sie nicht zu haben, sondern einfach nur Spaß daran. Umso tröstlicher wirkt unsere Spielfigur: Der kleine Roboter Josef. Er scheint tatsächlich mit zu leiden, wenn ihm die Bewohner der Stadt in animierten Sprechblasen bildhaft schildern, was die Gangster ihnen angetan haben. Ein empathisches Wesen – noch dazu ein Roboter – in einer solchen Welt, muss etwas Besonderes sein. So folgt man gerne dem Plot, auch wenn er vorhersehbar ist. Einfach nur, um den bösen Jungs eins auszuwischen. Auch wenn man der unwahrscheinlichste Typ – äh, Roboter – dafür ist. Die klassische Underdog-Geschichte eben.

Das Spiel im Spiel

Interessant an Machinarium ist die Spielmechanik der Rätsel. Wie in vielen anderen Spielen gibt es in Machinarium Minispiele, die die Haupträtsel ergänzen und mal mehr mal weniger innovativ/nervig sind. Legendär das Banjo-Duell in Lucas Arts Fluch von Monkey Island. Nervig das Taubenschlagraten in Daedalic Entertainments Anna´s Quest. Gemeinsam ist dem Genre Minispiel im Spiel aber stets, dass sie die Haupthandlung ergänzen. Anders in Machinarium. Hier bestimmen die Minispiele das Geschehen. Das geht so weit, dass einem Josefs Rätselreise durch die Maschinenstadt manchmal nur wie die Rahmenhandlung für eine exzessive Abfolge von Minispielen erscheint. Es gibt in Machinarium nämlich nicht einen Mechanismus, der sich benutzen ließe, ohne vorher über ein Minispiel aktiviert worden zu sein. Seien es Türen, Aufzüge, Diaapparate oder Leitungssysteme, die grantige Robotereulen unter Strom setzen (!). Im Kontext der Spielwelt macht das natürlich Sinn: In einer Maschinenstadt läuft eben alles über Maschinen, die wiederum über maschinelle Mechanismen aktiviert werden müssen. Nachdem man aber vor der x-ten Tür stand, die wieder nur über ein Minispiel geöffnet werden kann, wünscht man sich aber die gute alte Holztür zurück, die „halt einfach aufgeht“ oder die meinetwegen ganz analog mit Brettern zugenagelt ist und hey, haben wir nicht eine Axt im Inventar? Vor allem, da die Rätsel abseits der Minispiel dürftig gesät sind. Wir haben kaum Gegenstände im Inventar und wenn, dann ist es oftmals zu naheliegend, was wir damit anfangen sollen. So träumt ein Mitgefangener in unserer Zelle, in der wir zu Beginn des Spiels landen, davon, noch einmal eine Zigarette rauchen zu können. In der Zelle selbst finden wir Papier und im Abwasserrohr grünen Schlamm, den wir über der Glühbirne in der Zelle trocknen und dem armen Kerl daraus eine schiefe Kippe bauen. Lange rätseln muss man hierfür nicht, zumal die Handlungsmöglichkeiten – wir können uns ja nur innerhalb der winzigen Zelle bewegen – begrenzt sind. Es gibt also zwar klassische Kombinationsrätsel in Machinarium. Sie bilden aber nur den Rahmen für die Minispiele. Das ist schade, zumal die Kulisse der Maschinenwelt ja allerhand Potential hergeben würde für wilde Adventure-Basteleien.

Ein Spiel wie ein Zauberwürfel

Die Minispiele selbst sind dafür umso ausgefeilter. Es sind allesamt Logikrätsel der Marke „Da raucht der Schädel“.
So müssen wir etwa in einem Minispiel ein Leitungssystem manipulieren, um die Bösewichte unter Wasser zu setzen. Das Leitungssystem ist dabei natürlich das Gegenteil von dem geradlinigen, wenig komplexen System in unserem eigenen Keller: Es ist verwinkelt, verdreht, unübersichtlich und hat einen Haufen Verbindungsstellen, die erstmal richtig gesetzt werden müssen.
In einem anderen Minispiel müssen wir auf einem Quadrat mit 3×3 Feldern einen blauen Punkt von einem Quadrat zu einem bestimmten anderen Quadrat befördern, ohne dass wir den Punkt selbst dabei bewegen können. Nur mithilfe dreier Formen, die selbst jeweils ein Quadrat einnehmen, zu jeweils einer Seite hin offen sind und an dieser Seite den blauen Punkt aufnehmen und in eine bestimmte Richtung befördern können, dabei aber selbst noch ineinander verschachtelt werden müssen, können wir das Ziel erreichen. Nichts verstanden? Kein Wunder. Grübelnahrung vom Feinsten.

Lösung all inclusive

Wer bei all diesen intellektuellen Herausforderungen in eine Sackgasse gerät, kann das im Spiel angedockte Lösungsbuch zu Rate ziehen. Gratis gibt es bei Bedarf außerdem einmal pro Level einen Hinweis – natürlich in Form einer Gedankenblase. Wer dann immer noch im Dunkeln tappt, greift zum Lösungsbuch. Das aber verhält sich wie die Türen in Machinarium. Es lässt sich nicht einfach so öffnen. Sondern nur über – richtig! – ein Minispiel. Wer sich erfolgreich durch zunehmend schwierige Level im oldschool Arcade-Style geschossen hat, darf endlich das Buch aufschlagen. Die Lösung gibt es auch hier nicht in Textform, sondern in Bildern. Und hier macht das Minispiel auch viel Sinn. Weil es durchaus schwierig ist oder zumindest ziemlich nervig, greift man nicht so schnell zum Lösungsbuch, sondern schlägt – besser: grübelt – man sich lieber selbst durch. So ist die Schwelle zur Entscheidung für den einfachen Weg hoch genug, das man ihn tatsächlich erst dann wählt, wenn man kurz davor ist, seine Aspirinvorräte zu plündern.

Der gute Roboter von Sezuan

Am Ende findet der kleine Roboter seine Freundin wieder, die von den bösen Jungs eingesperrt worden ist, trifft auf das Superhirn der Maschinenstadt, das von den Bösewichtern außer Gefecht gesetzt wurde und muss eine Bombe entschärfen (natürlich am höchsten Turm), die diese angebracht haben. Alles über Minispiele.
Und als nach etwa fünf Stunden Spieldauer der Vorhang fällt, bleibt man zurück mit einem brummenden Schädel und dem wohligen Gefühl im Bauch, dass es eigentlich ganz nett wäre, wenn die Welt so liefe. Du stehst im Bewerbungsgespräch? Es wird nicht geredet, sondern: Minispiel! Du willst deinen wieder mal völlig übertriebenen Einkauf aus dem Supermarkt (es war aber doch reduziert!) in deinen viel zu kleinen Kühlschrank schlichten? Minispiel! Du hast den Typen/die Süße endlich mit nachhause genommen? Minispiel…Äääh?

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Der dunkelste Tunnel. Metro 2033 Last Light oder die Klaustrophobie unter der Gasmaske

dark-one
Ich sehe nichts. Der Farbfilter ist definitiv zu dunkel. Oder ist es die Sonne, die durchs Fenster scheint? Ich lasse die Jalousie runter. Ratsch ratsch ratsch. Was kann schon passieren – im Intro? Alles nur Cutscene. Ich sitze mit vier Männern in einem Metrotunnel, die Zigarettenspitzen sind hell in der Dunkelheit. Was kann schon passieren in einer Cutscene?
Zu spät.
Ich höre noch einen Schrei, irgendwo weiter vorne im Tunnel, wo die Gleise in die Dunkelheit laufen. Die Männer neben mir springen auf, gezogene Waffen.
Dann sind sie schon hier.
Vier, fünf schwarze Gestalten. Riesig. Lange, dünne Glieder. Die Gesichter wie zerrissen und wieder zusammengenäht. Direkt aus einem Albtraum. Und um mich die Dunkelheit.
Die Cutscene kündigt nicht an, wann ich handeln kann. Ich merke, wie ich wild auf die linke Maustaste klicke – schieß doch! – lange bevor ich schießen kann. Dann schieße ich, die schwarzen Gestalten auf mir, über mir.  Ich schieße und schieße.
Sie fallen. Endlich. Einer nach dem Anderen. Aber als sie auf den Gleisen aufkommen, sind sie nicht mehr die Gestalten aus dem Albtraum. Sondern die Männer, mit denen ich eben noch dasaß und geraucht habe.
Der letzte der Dunklen. Er hat mich. Ich schlage blind nach vorne, komme schließlich an mein Messer. Ich ziehe es, stoße in seinen Kopf. Es fährt im direkt in den Schädel. In diesem Moment ist es nicht mehr die schwarze Gestalt. Ich halte meinen Kameraden im Arm. Mein Messer in seinem Schädel. Seine Augen sind seltsam nach oben verdreht.
Er sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen.
Ich lasse ihn los. Um mich liegen die Männer, mit denen ich eben noch geraucht, geredet habe. Der Tunnel ist jetzt noch dunkler als zuvor. Meine Hände sind voll Blut. Als ich aufsehe, steht über mir eine der Gestalten, dunkel wie der Tunnel. Sie streckt ihren Arm nach mir aus.
Ich wache auf. Alles nur ein Traum?
Ab jetzt bin ich auf der Hut in diesem Spiel. Ich verlasse meinen Stuhl nicht mehr. Auch nicht, als draußen die Wolken kommen und die heruntergelassene Jalousie in meinem Zimmer viel zu dunkel ist. Ich bleibe sitzen. Wer weiß, was passiert?
Ich wache auf in einem Bunker irgendwo in den Tiefen der Moskauer Metro. 2033. Zwanzig Jahre nach der nuklearen Katastrophe. Wasser tropft von den Wänden. Die Gänge sind eng und alt. Ein Mann weckt mich. Khan. Er sagt, er habe eine der dunklen Gestalten gesehen, in der Nähe der Botanischen Gärten an der Oberfläche. Eigentlich sollten sie alle vernichtet sein. Vor einem Jahr habe ich ihr Nest zerstört. Vom Fernsehturm aus. Drei Raketen. Wie kann noch einer übrig sein? Noch seltsamer – Khan meint, ich müsse sie finden, diese letzte Kreatur, und mit ihr Kontakt aufnehmen. Nur ich könnte das. Aber warum reden mit diesen Wesen aus einem Albtraum, die offensichtlich in unseren Geist einsteigen und manipulieren? Die Halluzinationen erschaffen, die mich dazu bringen, meinen Kameraden Messer in den Schädel zu rammen? Ich folge Khan zum Anführer der Splittergruppe, deren Teil ich bin: Die Spartan Order. Khan berichtet von seiner Entdeckung. Und seiner Überzeugung, dass wir versuchten müssten, mit dem Dark One Kontakt aufzunehmen. Colonel Miller hört sich Khans Entdeckung an. Die Überzeugung nicht.
Die Befehle von Chef Colonel Miller sind eindeutig: Finde den letzten Dark One. Töte ihn. Khan wird weggebracht.
Mit der Scharfschützin Anna mache ich mich auf den Weg in die Botanischen Gärten. Zur Oberfläche. Die Kacheln an den Wänden der verlassenen Station, in der wir aussteigen, sind voll mit Dreck und Blut. Der Tunnel dahinter – voll Leichen. Kahle Schädel leuchten im Schein meiner Taschenlampe. Ratten fliehen. Schließlich da vorne: Licht. Aus einem Schacht über uns. Die Oberfläche. Ich ziehe die Gasmaske über. Atme schwer.
Das Licht am Ende des Tunnels ist in diesem Spiel keines mehr. Es ist das fahle Licht einer toten Welt. Die Kontamination ist überall. Atmen ist nur möglich durch die Gasmaske. Habe ich keine frischen Filter mehr, bleiben mir nur noch Momente. Der Atem wird schwer, das Ringen nach Luft lauter, die Sicht verengt sich, verschwimmt. Dann ist es vorbei.
Jetzt noch nicht. Ich folge Anna an die Oberfläche.
Oben liegt die Welt in Trümmern. Der saure Regen auf meinem Visier nimmt mir die Sicht. G – ich wische über die Gasmaske. Dreck spritzt unter meinen Füßen. In der Ferne ragt ein dunkler Turm aus den Ruinen – die Lomonosov Universität? Da vorne unter uns sind die Botanischen Gärten.
Und das ausgebrannte Nest der Dark Ones: Ein Krater aus Asche. Es sieht aus wie ein gigantischer Elefantenfriedhof.
Anna nimmt ihre Position ein. Ich muss allein da runter.
Ich checke den Filter meiner Gasmaske, lade nach. Dann springe ich die Böschung hinab.
Etwas kommt!
Nicht der Dark One.
Eine Horde Watchmen – hundeähnliche Mutanten.
Sie kommen von rechts. Von links. Von allen Seiten. Anna schießt aus dem Off, ich mittendrin. Das Brüllen der Monster übertönt beinahe meinen Atem, als er knapp wird. Keuchen. Der Filter ist leer. Ich halte die linke Maustaste weiter gedrückt, schieße, drehe, renne, versuche den Watchmen auszuweichen. Zwischendrin T – Filter wechseln. R – Reload. Das Blut der Monster läuft über mein Visier. G – Gasmaske abwischen.
Ich wünschte, ich hätte mehr Finger.
Dann ist der Sturm vorbei. Ich atme tief ein, tief aus. Diesmal wirklich. Ich vor meinem Bildschirm. Zeit bleibt keine. Da vorne, am Rande des Kraters, ist etwas, höre ich Anna sagen. Es ist der Dark One!
Klein ist es, ein kleines, schwarzes Ding. Es sieht beinahe aus wie ein Kind. Es ist schnell. Springt davon, durch die engen Ruinen des Nests. Anna schießt. Immer wieder. Kein Treffer. Es ist sehr schnell. Ich folge ihm. Ich ziele. Ich schieße nicht. Es sieht beinahe aus wie ein Kind. Ich höre Anna schreien. Ich schieße trotzdem nicht. Da vorne ist eine Sackgasse. Noch ein Schuss aus dem Off. Treffer. Das Wesen fällt, versucht wegzukommen von mir. Ich packe es.
Als ich es berühre, wird alles Schwarz. Ein Tunnel, Eindrücke, Bilder von Menschen, die ich vielleicht gekannt habe. Bilder von mir selbst. Dann stehe ich im Nest der Dark Ones, zwischen ihnen. Sie stehen alle da. So viele. Und sehen zum Horizont. Was ist da?
Ich schaue hin.
Der Fernsehturm. Ein Licht am Horizont. Nein, drei Lichter. Drei Raketen.
Meine.
Sie steigen in den Himmel. Wie ein schönes Feuerwerk. Die Dark Ones schauen. Da hinten, am Rand des Nests, ist der Kleine. Die drei Lichter fallen. Und alles brennt. Der Kleine flieht. Und dann ist da nur noch der Knall. Und alles Licht.
Ich komme zu mir.
Ich liege auf dem Boden im Dreck. Neben mir ein Käfig. In dem Käfig die kleine Gestalt. Schwere Stiefel kommen in mein Sichtfeld. Männer mit grauer Uniform. Gasmasken. Ich höre noch „Guten Morgen“. Dann tritt er mir ins Gesicht. Ich bin weg. Das Reich hat mich.
Dort in meinem Zimmer vor dem Bildschirm drücke ich ESC. Atme tief ein, tief aus. Wie komme ich da jetzt wieder raus? Erst mal einen Kaffee. Eine Pause.
Erst jetzt bemerke ich die Dunkelheit. Die Jalousie ist noch immer unten. Das Zimmer dunkel.
Draußen ziehen die Wolken schneller. Ich lasse die Jalousie hoch.
Die Sonne kommt wieder.

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Dann manchmal

möchte ich aufstehen

das Zimmer verlassen

oben mich hinstellen

an das Ende der

Wendeltreppe aus Stahl

und hinunterfallen

hinunter

hinunter

so dass ich mit

meinem linken Beckenknochen

auf der untersten

Strahlenfassung aus rauem

Metall aufschlage

genau auf den Knochen

und ein oder zwei

von Evas Rippen

Dann stelle ich mir vor

wie der Schmerz

mich grüßen wird

zunächst stürmisch, unbeholfen

und grob

einer mit Flaum auf dem Kinn

der noch nicht geliebt hat

dann aber

nachdem er mir

das Becken gebrochen

und mir die dritte Rippe

in die Lunge

gestoßen hat

und Blutgerinnsel aus

meiner Iris verborgenen Adern

– er lernt schnell

wird sanft

wird zart

Herbstlaub und Husarenschlaf

und ich taub

schlucke Wolle

lecke Watte

alles jenseits meiner Zunge

liegt unter der Baumgrenze

unter Tannenruß versteckt

Don Juan mein Schmerz

dann der ewige Ehemann

neben mir auf der Verandakühle

in mückenlosen Mittagsschlaf

sich schaukelstuhlschaukelnd

und rote Band

unter meinem Becken

ist Erdbeersaft

und das weiße Rauschen

am Rand meines Selbst

nur die Dämmerung

 

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Ich gehe jetzt

komm

Willst du mich nicht

Ein

Zwei

Schritte

Zur Tür begleiten ?

Nein

Frag nicht

Du hast schon

So oft gefragt

Wer

Es sein wird

Der zurückkehrt

Die Angst

Dass nicht ich

Nicht das Ich von heute

Es sein wird

Das an einem

Noch unbekannten

Morgen

Dort

Die Klinke

Drücken wird

Kann ich dir nicht nehmen

Ich kann dir nichts

versprechen

Mich selbst verlieren

Hinter dieser Tür

Ist alles möglich

Vielleicht

Kehrt einer zurück

Den du nicht mehr kennst

Und du reibst dir die Augen

Und mein Name

Liegt dir auf der Zunge

Aber

Er schmeckt nicht mehr

Nach mir

Hinter dieser Tür

Wechsle ich die Häute

Um meinen Geist

Und gehe

Mit der Ferne

Zu Bett

Heute

Bitte ich dich

Komm noch

Mit mir

Die ein

Zwei

Schritte zur Tür

Auf die Gefahr hin

Dass aus

Auf Wiedersehen

Leb Wohl

wird

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Die Geschichte vom uralten Wetterhahn und dem Raben Alleweil

Es war einmal ein winziges Dorf im Norden der Welt, das besaß nichts außer einer uralten Kirche, die schon länger im Wald stand als die Menschen im Ort sich erinnern konnten. Die Kirche war nicht groß und nicht voll Gold und Silber, wie ihre Geschwister in anderen Städten und Orten, aber aus der Mitte ihres Daches ragte ein sehr schöner, wenn auch alter und runzliger Kirchturm, mit einem eiserne Wetterhahn an der Spitze heraus.

Immer wenn die Glocke im Turm zur vollen Stunde schlug, tanzte der Hahn, über die Wipfel der Bäume hervorlugend, im Kreis herum, so oft wie es Schläge tat und die Stunde schlug.

Weder der Turm, noch der Wetterhahn, noch die Bauern im Dorf konnten sich an eine Zeit erinnern, in der es anders gewesen wäre.

Und so vergingen Jahre und Jahrzehnte und vielleicht sogar Jahrhunderte – wer kann das so genau schon wissen?

Bis zu jenem Winter, als der Rabe kam.

Alleweil war nämlich ein Rabe auf der Suche nach dem Ende der Zeit. Nicht, dass er des Lebens überdrüssig gewesen wäre, aber nach langen Jahren des Brütens, des Futtersuchens und des allzu oft ziellosen Umherfliegens in seinem familiären Revier sprach er zu Mutter und Vater Rabe:

-Vater, Mutter, ich ziehe aus das Ende der Zeit zu suchen.

Keiner der Raben verstand es und ein großes Geschrei und Gekrächze ging durch den heimatlichen Wald:

-Was hat die Zeit schon, dass du sie suchen musst?

Der Vater legte dem Sohn einen seiner schwarzen Flügel auf das kohlefarbene Gefieder und sagte:

-Du brauchst nicht auszuziehen und ihr Ende suchen. Wenn du älter bist, wirst du sehen, dass es schon früh genug kommt, früher als es dir vielleicht lieb ist.

Aber Alleweil hörte nicht und flog in die Welt hinein.

In jenem Winter fand er lange Zeit nichts zu fressen, tief waren alle Würmer unter die eisgefrorene Erde gekrochen, Schnee bedeckte das Land.

Erschöpft und verzweifelt kam Alleweil in das winzige Dorf und suchte Unterschlupf im uralten Kirchturm.

Als es Zwölf schlug kam Leben in den mit Raureif beschlagenen Wetterhahn auf der Spitze des Turms.

Mit jedem Glockenschlag tanzte er im Kreis herum.

Alleweil wunderte sich sehr über das Benehmen des Hahnes und nach dem letzten Schlag fragte er:

-Warum drehst du dich?

Der uralte Wetterhahn schüttelte erst ein wenig den frischgefallenen Schnee von seinem eisernen Köpfchen, bevor er antwortete:

-Ich gebe die Zeit an.

Alleweil wunderte sich immer mehr:

-Aber das macht doch die Glocke. Niemand liest an dir die Zeit ab.

-Ich gebe die Zeit an. Von Anfang bis zum Ende. Wenn ich mich drehe wenn die Glocke schlägt weiss ich das Ende der Zeit, wenn sie aufhört und ich stillstehe.

-Aber du bist doch ein Wetterhahn! Du sollst das Wetter, nicht die Zeit angeben.

-Papperlapapp. Du bist ein Rabe und solltest jagen und längst weiter im Süden sein. Und doch sitzt du halb verhungert im Schnee und redest mit einem Wetterhahn. Und dabei können Wetterhähne gar nicht reden!

Und damit schwieg der Hahn und war stumm wie zuvor.

Aber Alleweil hatte Hoffnung geschöpft. Er war schon so weit geflogen und alles für das Ende der Zeit hinter sich zurückgelassen. Der Wetterhahn hatte vom Ende der Zeit gesprochen.

-Wenn ich es hier nicht finde, dachte Alleweil in seiner Verzweiflung, dann werde ich unverrichteter Dinge wieder zurückkehren müssen.

Nachdrücklich hackte er mit seinem spitzen Schnabel gegen den eisernen, nun starren Wetterhahn:

Guter Wetterhahn, flehte er, bitte erzähle mir vom Ende der Zeit.

Noch immer etwas gekränkt, blinzelte der Hahn den Raben an:

Warum wirst du es wissen wollen? Es würde dein Ende bedeuten.

Alleweil schüttelte den Kopf:

Das glaube ich nicht. Du lebst ja auch noch.

Wie kann ein Rabe auch wissen, dass ein Wetterhahn nicht sterben kann, weil er noch nie gelebt hat?

Alleweil flehte weiter:

-Ich bin so weit geflogen und habe so viele Länder durchquert. Aber Nirgendwo habe ich das Ende der Zeit gefunden!

-Das liegt daran, dass du nicht genau hinsiehst. Du verlierst dich im Großen der Frage ohne zu sehen, dass das Große aus vielem, vielem kleinen besteht. Schau!

Mit einem metallenen Quietschen drehte sich der Wetterhahn Richtung Dorf. Alleweil verstand nicht. Ungeduldig nickte der Wetterhahn auf eine der im Schnee begrabenen Hütten, aus der dünner Rauch aus einem schütteren Schornstein aufstieg.

In dieser Hütte liegt eine Alte in ihrem alten, hölzernen, harten Bett im Sterben. Sie hatte ein langes aber unbarmherziges Leben. Feldarbeit und sechs Kinder, drei Enkel und einen toten Ehemann. Sie hat den letzten Krieg gesehen und Liebe erfahren. Sie war nie gebildet und hat nie Habgier empfunden, weil sie zu einfach ist. Sie stirbt in soviel Glück, soviel sie sich selbst zugestanden hat und soviel ihr das Leben gewährte, das sie führte.

In dieser Hütte liegt das Ende der Zeit.

Alleweil verstand nicht.

Seufzend verbog sich der Wetterhahn auf seinem eisernen Gestell, bis sein Schnabel auf den uralten Kirchturm zeigte, auf dem sie saßen.

-Dieser Kirchturm ist bald so alte wie die Menschen selbst. Aber auch sein Ende kommt. Die Zeit wird ihm die Mauersteine aus dem Leib bröckeln lassen, sie schwächt ihn und er wird einstürzen und nur Ruinen werden seine Kinder sein. Wenn er fällt, dann falle ich mit ihm und werde nur noch in Erinnerung leben, bis auch diese Erinnerung vergessen wird von der Zeit.

In diesem Kirchturm liegt das Ende der Zeit.

Alleweil verstand nicht.

Der Wetterhahn bog sich wieder zu ihm hinauf, bis er de Raben direkt in die schwarzen Augen sah:

-Du, Rabe, bist weit geflogen und hast viele Länder durchquert, viel gesehen und doch nichts wahrgenommen. Hast alles zurückgelassen um das Ende der Zeit zu finden und verstehst nicht, dass du genauso gut an einem einzelnen Ort hättest sitzen bleiben können und nur ein wenig hättest warten müssen.

Du hättest Kinder haben können, mit deiner Familie überwintern können und Nahrung suchen und dadurch warten und gleichzeitig die Wartezeit verkürzen können. Du hättest Gutes und Schlechtes in deinem Leben tun können, Schlachten schlagen oder Frieden vermitteln können.

Du, Rabe, bist das Ende der Zeit.

Nur stellst du die falsche Frage. Nicht das Ende der Zeit will gefunden werden. Die Zeit ist zu kurz. Frag dich, was du aus ihr machen kannst.

Danach schwieg der Wetterhahn.

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie schnell Alleweil wieder daheim war.

Im Dorf derweil starb die alte Frau und wurde von vielen beweint. Auch ich war da und vergoss eine Träne.

Und nach weiterer Zeit hörte man im Ort einen gewaltigen Schlag, Staubwolken quollen durch den Wald.

Der uralte Kirchturm war zusammengebrochen.

Den eisernen Wetterhahn sah man nie wieder.

Der Rabe Alleweil jedoch bekam von alledem nichts mit.

Er spielte mit seinen Kindern und half weiter brüten, pickte nach Nahrung zwischen den Moosen und schnäbelte mit seinen Eltern.

Hin und wieder dachte er an den uralten Wetterhahn, lachte dann krächzend und sprach – zur großen Verwunderung der Raben im Wald – :

Wetterhähne können doch gar nicht reden.  

 

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Anna´s Quest: Das Erwachsenwerden ist eines der Schwersten

Anna

Geschichten wie aus dem Märchenbuch kennen wir von Daedalic Entertainment nur zu gut. Mit Edna bricht aus (2008), The Whispered World (2009) und Deponia (2012) hat das Hamburger Entwicklerstudio gezeigt, dass das Adventure-Genre alles andere als tot ist. Diesmal aber treten wir direkt ein in die Grimmsche Märchenwelt. Anna´s Quest ist das Märchen von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen. Es ist die klassische Erzählung des unschuldigen Mädchens, die mit Witz und Verstand ein Unglück abwenden muss in einer Welt, die ihr feindselig gegenübersteht. Vor allem aber ist es eine Geschichte über die Beschwerlichkeit des Erwachsenwerdens. Hinter Idee und Design des Spiels steckt der australische Designer Dane Krams, der Anna´s Quest als Abschlussprojekt seines Studiums designte und dann gemeinsam mit Daedalic Entertainment umsetzte. In bester Adventure-Manier point&klicken wir uns in sechs Kapiteln durch eine hübsch gezeichnete Märchenwelt, in der Magie – natürlich – eine zentrale Rolle spielt. Wer aber meint, die Story wäre ebenso süß wie der Grafikstil, hat weit gefehlt. Je tiefer wir in Annas Geschichte eintauchen, desto vielschichtiger wird sie. Anna´s Quest berührt Themen, die so gänzlich im Gegensatz zur süßlichen Inszenierung des Spiels stehen: Wir stoßen auf verkorkste Kindheiten, Fragen von Schuld und Sühne und am Ende begegnen wir sogar dem Teufel selbst. Aber von Anfang an:

Es war einmal im dunklen Wald

Die sonore Erzählerstimme berichtet uns in einem in aquarellfarbenen Tönen gehaltenen Intro, wie Anna mit ihrem Großvater abgeschieden im großen, dunklen Wald wohnt. Seit sie denken kann, erzählt der Großvater Anna, dass die Welt voller übelmeinender Gestalten ist und nur hier, auf dem kleinen Hof inmitten des Waldes, wären sie sicher. Eines Tages wird er von einer mysteriösen Krankheit befallen. Trotz seiner Warnungen macht sich Anna auf, ein Heilmittel zu finden.

So weit, so Rotkäppchen.

Natürlich lässt das Übel nicht lange auf sich warten. Kaum hat Anna einen Fuß in den Wald gesetzt, lauert ihr schon eine böse Hexe auf. Schwupps – finden wir uns in einem Zimmer im Turm der Hexe tief im Wald wieder. Das Zimmer ist zwar voller Plüschtiere und rosafarbener Tapeten. Das kann uns aber natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hexe Übles im Schilde führt. Die seltsame Maschine und die Überwachungsanlage, über die die Hexe uns beobachtet und uns Anweisungen gibt – NSA lässt grüßen –, lässt Schlimmes befürchten. Das Experiment der Hexe bringt in Anna ein magisches Talent hervor, das  wohl der Grund dafür ist, dass ihr Großvater sie abgeschirmt hat: Anna besitzt die Fähigkeit der Telekinese. Genau an diese Fähigkeit will die Hexe heran. Warum, bleibt zunächst unklar.

Ist aber auch egal. Tagesordnungspunkt Nummer Eins ist, aus dem Turm zu entkommen und das Heilmittel für Opi zu finden.

MacGyver für Arme

Die Rätsel, vor die uns Anna´s Quest stellt, sind durchgehend solide. Um die Telekinese-Absaug-Maschine für unsere Zwecke zu manipulieren, schneiden wir etwa dem Einhorn-Plüschtier sein Horn ab und hebeln damit die Abdeckung der Maschine auf. Den Babydrachen, den wir auf dem Dachboden des Turms finden, benutzen wir, um dem Zauberkessel, den wir für einen Schutzzauber brauchen, Feuer unterm Metall zu machen. Solides Rätselraten, aber für eingeschworene Adventure-Spieler kaum eine Herausforderung. Erst zur Mitte des Spiels legt der Schwierigkeitsgrad etwas zu.

Sporadisch eingestreut sind außerdem eine Handvoll Minispiele. So müssen wir etwa eine Melodie richtig nachspielen, damit sich eine geheime Tür öffnet. Das ist unterhaltsam, aber nicht gerade innovativ. Minispiele mit Melodierätseln haben wir schon anderswo und besser inszeniert gesehen: Man denke nur an das legendäre Banjo-Duell aus der Fluch von Monkey Island oder die Sesam-öffne-dich-Melodie aus Dreamfall Chapters. Immerhin: Wer mit Minispielen so gar nichts am Hut hat oder wessen Geduld ungefähr so ausgeprägt ist wie die Liebenswürdigkeit der bösen Hexe – nämlich gar nicht –, der kann diese Sequenzen überspringen. Das ist einerseits eine praktische Option. Andererseits nimmt es den Rätseln aber auch ein großes Stück Relevanz: Wenn es sowieso egal ist, ob wir das Minispiel spielen oder nicht, warum es dann überhaupt erst reinpacken? Mit einem Umfang von etwa zwölf Stunden Spielzeit hat es Anna´s Quest eigentlich nicht nötig, Elemente wie Minispiele als Zeitfresser einzubauen.

Die Steuerung dagegen fällt angenehm minimalistisch aus. Mit Rechtsklick betrachten wir Gegenstände, mit Linksklick interagieren wir. Zusätzlich gibt es mit der Leertaste die obligatorische Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-Hilfsfunktion, die sämtliche Gegenstände markiert, mit denen wir interagieren können. Und dann ist da natürlich die Telekinese. Über einen Button auf dem unteren linken Bildschirm bzw. über die Schnellauswahl K kann Anna über ihre Telekinese mit Dingen interagieren. Dabei wird aber eine Menge Potential vergeben. Die Fähigkeit ist fast ausschließlich an banale Rätsel der Art Bringe-a-nach-b gebunden:

Wir müssen an eine Frucht kommen, die zu weit oben am Baum hängt? Telekinese! Wir müssen an ein Handtuch gelangen, das zu weit oben an einer Wäscheleine hängt? Telekinese! Wir müssen ein Formular erreichen, das zu weit oben – nun, you get what I mean! Hier wäre mehr Kreativität angebracht gewesen.

Schade ist außerdem die ausschließlich englische Sprachfassung, die einige Spieler verschrecken dürfte. Gerade, weil Daedalic Entertainment als deutsche Spieleschmiede ansonsten erstklassige deutsche Vertonungen liefert. Trotzdem: Die englische Vertonung ist durchweg gelungen. Annas mädchenhafte Stimme spiegelt die Gemütszustände exakt wieder: Ihre Empörung, als sie herausfindet, dass der Geist Joringel sie für seine eigenen Zwecke ausgenutzt hat; Ihre Unsicherheit in vielen Gesprächen, vor allem als der Teufel ihr den Spiegel ihrer eigenen Unzulänglichkeit vorhält. Ebenso passend ist die Stimme von Ben, unserem verwunschenen Gefährten: Ebenso weinerlich wie seine Art ist seine Stimme. Das kann nerven, passt aber leider einfach zu der Figur. Besonders unterhaltsam ist die Stimme der Hexe, die ständig zwischen säuselndem Überreden und cholerischen Wutausbrüchen schwankt. Nein, nein, sie wolle uns nicht grausam umbringen und dann verspeisen, weil wir ihr Experiment manipuliert haben. Sie wolle uns nur helfen, weil sie sich Sorgen mache. Ja, wirklich. Na klar. Wir tun natürlich den Teufel und lassen die verrückte alte bestimmt nicht in den Turm, in dem wir uns nun verbarrikadieren konnten.

Eine schwere Kindheit

Schließlich schaffen wir es, die Hexe zu überrumpeln und aus dem Turm zu entkommen. Gemeinsam mit Ben, einem sprechenden Teddybären der eigentlich ein verwunschener Junge mit Gedächtnisverlust ist, machen wir uns auf Anraten eines Zauberspiegels (ja, der Zauberspiegel) auf den Weg durch den Wald in das Dorf Wunderhorn, wo es einen Zauberer geben soll, der das Heilmittel für Annas Großvater kennt. Der Zauberer entpuppt sich als Zauberin und trägt uns auf, drei magische Dinge zu finden, mit deren Hilfe sie das Heilmittel herstellen könnte. Die Aufgabe ist, wie üblich, eigentlich unlösbar und schon gar nicht von einem kleinen Mädchen zu bewältigen. Natürlich schaffen wir es trotzdem irgendwie, die magischen Dinge zu beschaffen.

Dabei überlisten wir eine kinderfressende Hexe, einen misanthropischen Einsiedler und eine Horde tödlicher Sirenen, die eine Schwäche für klassische Musik haben.

Leider aber stellt sich heraus, dass die Zauberin wiederum uns überlistet hat und in Wahrheit die böse Hexe ist. Zu allem Überdruss ist sie auch noch die zukünftige Königin, nachdem die wahre Königin – ihre Schwester – verschwunden ist. Wer sie hat verschwinden lassen, das kann sich jetzt wohl jeder selbst ausrechnen. Nach diesem Twist werden wir kurzerhand ins Verlies geworfen, das die Hölle ist.

Also – im wahrsten Sinne des Wortes. Wir landen in der Hölle. Und müssen den Teufel selbst überlisten.

che Rolle Anna im bösen Plan der Hexe spielt, die Herrschaft an sich zu reißen und was das mit der mysteriösen Krankheit des Großvaters und dem sprechenden Bären Ben zu tun hat, wird erst nach und nach klar und würde an dieser Stelle zu viel verraten. Soviel aber sei gesagt: Anna´s Quest macht es sich nicht einfach. Das Schwarz-Weiß klassischer Märchenerzählungen – die Hexe ist schlicht böse und der Held gut und am Ende kriegt die Hexe was sie verdient – wird komplett ausgehebelt. Wir lernen, dass die böse Hexe aus dem Turm einen Namen hat: Winfriede, auch „Winnie“ genannt. Wer so heißt, kann ja eigentlich nicht richtig böse sein. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass Winfriede nicht immer die alte, grantige Gestalt war, die sie jetzt ist. Wie sie dazu geworden ist, können wir in einem kurzen, aber intensiv inszenierten Kapitel am Ende sogar selbst nachspielen.

Coming of Age im Märchenland

Anna´s Quest ist vor allem eine Geschichte über das Erwachsenwerden und darüber, dass die kindliche Vorstellung von der Welt und so, wie sie tatsächlich ist, oft nicht zusammenpassen. Auf ihrer Reise hilft Anna, wo sie kann. In ihrer unschuldigen, empathischen Art versucht sie noch, der hinterletzten Märchengestalt in Not zu helfen. Einige meinen es gut mit ihr. Andere nicht. Viele benutzen Anna für ihre eigene Agenda. Es ist herzzerreißend mit anzusehen, wie Anna mit ihrer Selbstlosigkeit allein auf weiter Flur ist. Anna´s Quest ist ein Coming-of-Age-Spiel. Das ist seine Stärke. Das macht es interessant. Genau das ist es aber auch, was den Spieler manchmal in den Wahnsinn treibt. Annas Naivität ist teilweise schmerzhaft. Man möchte ihr zurufen: „Wie naiv kann man sein!“ und sich den Dialogoptionen gänzlich verweigern, weil sie in ihrer Gutmütigkeit einfach zu eingeschränkt sind.

Und die Moral von der Geschicht´

Die Stimmung in Anna´s Quest macht die teilweise schwer zu ertragende Naivität der Hauptfigur und die kaum herausfordernden Rätsel aber wett. Die Märchenwelt ist hübsch gezeichnet, auch wenn sie sehr viel abstrakter ausfällt und nicht an die melancholische Stimmung eines The Whispered World heranreicht.

Gerade weil Anna´s Quest optisch so süßlich inszeniert ist, bleiben die sehr ernsten Themen, die angesprochen werden, im Gedächtnis. Hinter der süßen Kinderfassade bricht Desillusionierendes hervor: Ruinierte Kindheiten, berechnende Menschen und die beunruhigende Vorahnung, dass man manchmal weniger Einfluss auf das eigene Schicksal hat als man hofft.

Und vor allem: Dass niemand einfach nur so böse ist. Anna´s Quest schlägt sich bis zuletzt auf keine Seite. Zum Schluss bleibt eine Szene im Gedächtnis: Der Großvater erklärt Anna, dass es draußen Menschen gebe, die böse seien, die versuchen würden, sie auszutricksen. Anna fragt beunruhigt, ob sie denn dann auch böse sei, weil sie einmal versucht hat, den Großvater mit einer Lüge auszutricksen. Er lacht und meint, dass sie deswegen natürlich nicht böse sei. Er und sie, sie seien die Guten. Sie machen nur manchmal Fehler. Darauf fragt Anna: „Dann machen manche Menschen, von denen wir glauben, dass sie böse sind, vielleicht manchmal auch einfach nur Fehler?“ („Well, some people we think are bad might just be making mistakes, then?“). Wenn das kein Spruch fürs Poesiealbum der Lebensweisheiten ist, dann will der untote Piratenkapitän LeChuck nicht Gouverneurin Elaine zur untoten Braut!