Der "War On Bullshit" oder: Wo ist die Lüge hin? Politischer Diskurs im postfaktischen Zeitalter
14 Oktober, 2016
Am 28. September 2015 verkündete Trevor Noah die Fortsetzung des „War On Bullshit“.
Der gerade mal 32-jährige, aus dem südafrikanischen Johannesburg stammende, Comedian übernimmt nach sechzehn Jahren (!) John Stewart dessen Platz hinter dem Schreibtisch der The Daily Show.
Kaum vier Monate zuvor offenbarte sich Donald Trump, aus den güldenen Gefilden seines Rococo-Penthouses in Trump Tower, 725 Fifth Avenue, herabsteigend, auf der berühmten Rolltreppe ebenda, als Präsidentschaftskandidat für den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Nun sind es noch sechsundzwanzig Tage bis zur Wahl am 8. November und es bleibt nur eine Frage: Wo ist eigentlich die Lüge hin?
Diese Frage erscheint erst einmal überraschend. Beide Wahlkampflager bezichtigen den jeweils anderen als Lügner („Crooked Hillary“) und beide Seiten haben ihr Päckchen an Unwahrheiten zu tragen. Zweifelsohne. Die US-Medien und soziale Netzwerke fact-checken rund um die Uhr. Und trotzdem: Die Wirkung, wenn eine Lüge als solche entlarvt wird, hält sich oft überraschenderweise in Grenzen. Trump hat nachweislich den Klimawandel bestritten, Position für den Irakkrieg bezogen und ist rassistisch und sexistisch ausfällig geworden. Er bestreitet all das. Die Fact-Checker in Medien und Öffentlichkeit verweisen verzweifelt auf die Fakten, auf die Wahrheit. Und natürlich haben sie Recht.
Aber genau hier liegt das Problem.
Fakten sind obsolet im postfaktischen Zeitalter.
Und vielleicht ohne es zu wissen, hat Trevor Noah mit der Wahl des Begriffs „Bullshit“ ins Schwarze getroffen.
Trump ist kein Lügner, sondern ein „Bullshitter“.
In seinem Essay „On Bullshit“ (2005) zieht der Philosoph Harry Frankfurt die Grenze zwischen „Bullshit“ und Lüge. In einer Anekdote von Fania Pascal besucht der Philosoph Ludwig Wittgenstein seine Kollegin und Freundin, die gerade an den Mandeln operiert worden ist und nun im Krankenbett liegt. Als sie klagt, sie fühle sich wie ein überfahrener Hund, antwortet Wittgenstein angewidert („disgusted“[1]), sie habe ja keine Ahnung, wie sich ein überfahrener Hund fühle („You don´t know what a dog that has been run over feels like“[2]). Pascal sieht nur noch Fragezeichen. Wittgensteins Reaktion ist mehr als nur unangebracht. Sie ist schlicht rätselhaft.
Was in Pascals Aussage ist es, das ihn so aufregt? Natürlich weiß Pascal nicht, wie sich ein überfahrender Hund fühlt. Aber lügt sie deshalb? Regt Wittgenstein sich vielleicht über die Aussage auf, weil er sie für eine Lüge hält? Aber wenn das eine Lüge wäre, wären alle Metaphern und Vergleiche, die wir im Alltag von uns geben, Lügen. Das ergibt kaum Sinn. Wir würden nur dann sagen, Pascal lüge, wenn sie etwa behauptet, sie fühle sich wie ein überfahrener Hund, obwohl sie sich eigentlich topfit fühlt. Wittgenstein wirft ihr also nicht vor, dass sie lüge.
Was aber dann?
Das Problem ist der Anteil an „Bullshit“ in Pascals Aussage. Anstatt den von ihr erlebten Zustand schlicht mit „mir geht es schlecht“ zu beschreiben (und dann auszuholen), wählt Pascal einen exzessiv spezifischen Vergleichswert („wie ein überfahrener Hund“), der sich um Wahrheitswerte nicht kümmert. Es ist keine Lüge, weil der Wahrheitswert als Maßstab in dieser Aussage schlicht unwirksam ist. Pascal lügt ja nicht, weil sie sich eben irgendwie so schlecht fühlt wie sich ein Hund unter gegebenen Umständen fühlen muss. Das ist keine Lüge.
Der Vergleich ist schlicht „Bullshit“, weil er sich eben nicht bemüht, real zu sein, d.h. sich um Wahrheitswerte zu bemühen: „Her fault is not that she fails to get things right, but that she is not even trying“[3].
Pascals Aussage entzieht sich dem binären System wahr/falsch und damit der Frage nach Wahrheit/Lüge. Weder ist sie davon überzeugt, dass ihre Aussage wahr ist (sie weiß ja, dass sie eben nicht weiß, wie sich der überfahrene Hund fühlt), noch ist sie davon überzeugt, dass sie falsch ist (dann würde sie ja lügen, das gerade tut sie ja aber nicht). In Frankfurts Worten: „It is just this lack of connection to a concern with truth – this indifference to how things really are – that I regard as the essence of bullshit“[4].
Damit sind wir abgelöst vom System Wahrheit/Lüge und mitten drin im „Bullshit“. Einziger Referenzpunkt hier: Subjektive Wahrnehmung.
Natürlich ist es gelogen, wenn Donald Trump die Arbeitslosigkeitsrate in den USA regelmäßig mit bis zu 42% beziffert (tatsächlich 5,1%). Aber in einem Diskurs, der die Sphäre des binären Systems Wahrheit/Lüge verlassen hat und in der Umlaufbahn des A-faktischen, des „Bullshits“, schwebt, ist das eben deshalb nicht gelogen, weil der dazugehörige Maßstab schlicht nicht mehr existiert. Als würde man mit einer rein schwarzen Farbpalette einen Baum malen wollen. Wir wissen, dass wir grün brauchen, dass Bäume grün sind und dass das die Wahrheit ist. Ist aber irrelevant. Es gibt halt nur Schwarz.
Im postfaktischen Diskurs geht es also nicht um eine Verneinung der Wahrheit. Es geht nicht darum, dass Fakten, d.h. die Frage nach Wahrheit/Lüge ignoriert werden. Natürlich werden sie das. Genauso wie Pascal weiß, dass sie eben nicht weiß, wie sich der überfahrene Hund fühlt.
Es geht darum, dass die binäre Codierung Wahrheit/Lüge auf Faktenbasis nicht mehr die moralisch maßgebliche ist.
Der Referenzpunkt dafür, ob etwas wahr oder falsch ist, ist einzig und allein das subjektive Empfinden.
Genau das steht hinter Aussagen wie der von Georg Pazderski, Mitglied des Bundesvorstands der AfD: „Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht da drum, wie das der Bürger empfindet. Das heißt also das, was man fühlt, ist auch Realität[5]“. Genau deswegen bleibt Trumps magische 42%-Arbeitslosenmarke weiter wirksam, auch wenn sämtliche Fact-Checker sie wieder und wieder öffentlich zerlegen: Weil das subjektive Empfinden bestimmter Bevölkerungstruppen u.a. durch Trump genau in diese Richtung gelenkt wird.
Ängste, die sich unabhängig von Fakten gebildet haben, können durch Fakten nicht zerstreut werden. Die Wahrheit ist kein wirksamer Referenzpunkt mehr. Es ist egal, wie die Realität wirklich ist, weil nur unsere subjektive Wahrnehmung eine Realität bildet, die relevant ist.
Genau deshalb hilft all das fact-checken nicht. Fakten sind nur dann relevant, wenn sie als Maßstab anerkannt werden, ob etwas wahr oder falsch ist. Im postfaktischen Diskurs geht es aber gar nicht mehr um die Frage nach wahr oder falsch.
Es geht darum wie wir uns fühlen, unabhängig davon, ob wir das aus gerechtfertigten Gründen tun.
Ungefähr so, als würden wir das kleine Kind beruhigen, dass es keine Angst vor dem Monster unter dem Bett zu haben braucht, weil unter dem Bett kein Monster ist. So richtig hilft das manchmal nicht. Da helfen auch die Fakten nichts. Weil das Monster unter dem Bett in der Realität des Kindes eben unter dem Bett bleibt, so sehr wir es auch daraus hervorholen. Das ist in Ordnung. Das ist normal. Für ein Kind. Im postfaktischen Diskurs scheint dieses infantile Merkmal im Umgang mit Fakten auf ganze Bevölkerungsteile übergesprungen zu sein.
Am Ende wünscht man sie sich beinahe zurück, die gute, alte Lüge. Die, sobald entlarvt, als valides Argument gilt, sich von bestimmten Meinungen zu verabschieden und anderen zu folgen. Aber der „Bullshit“ geht weiter, weil er schlicht deswegen nicht widerlegt werden kann, weil er sich außerhalb der Logiken des Verifizierens/Falsifizierens bewegt. Der Fact-Check ist machtlos gegen „Bullshit“.
Aber wie darauf adäquat reagieren?
Michelle Obama hat mit ihrem Credo „When they go low, we go high“ sicherlich moralisches Oberwasser. Aber letztlich kommt genau darin die Hilflosigkeit zum Ausdruck. Was sie meint ist: Wenn Trump lügt, dann sagen wir umso mehr die Wahrheit. Das Problem ist aber eben genau das: Der Diskurs findet außerhalb der Kategorien Wahrheit/Lüge statt. Michelle Obama fordert also zu einer Reaktion auf, die nur dann funktioniert, wenn beide Seiten inerhalb derselben Logik agieren – Wahrheit/Lüge mit dem Faktischen als Bezugspunkt. Trump handelt aber in der Logik des „Bullshit“. Das ist, als würde ich ein Feuer nicht mit Wasser löschen wollen, sondern mit der rechnerischen Beantwortung der Frage ob Hummeln unter bestimmten Bedingungen tauchen könnten. Schlicht: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun und kann also keine wirksame Antwort darauf geben.
Es bleibt zu hoffen, dass der Diskurs, wenn nicht zum Faktischen, dann doch zumindest zur Lüge zurückfindet. Denn: Einen Konsens in einer Gesellschaft zu erreichen, die nicht nur unterschiedliche Voraussetzungen im Bereich des faktischen Wissens hat und daraus subjektiv verschiedene Konsequenzen zieht, ist schon schwer genug. Einen Konsens in einer Gesellschaft zu erreichen, in der das subjektive Empfinden der einzige Referenzpunkt für Realität ist, ist unmöglich.
Das erste wäre in etwa so, als gäbe es in unserer Farbpalette nur Graustufen und man will einen Baum malen. Alle streiten sich, ob jetzt dieses Grau oder jenes Grau dem idealen Baum näher komme. Aber alle sind sich zumindest einig, dass Bäume grün sind. Und verdammt, jetzt haben wir zwar kein Grün, aber doch alle den gleichen Referenzpunkt.
Anders beim zweiten Fall. Auch hier gibt es nur eine Farbpalette mit Graustufen und auch hier soll wieder ein Baum gemalt werden. Nun meint der eine aber, Bäume sind pink mit Bonbons daran. Der andere meint, nein, Bäume sind einfach nur große Katzen und ein dritter ist davon überzeugt, dass es Bäume überhaupt nicht gibt.
Wo wird ein gesellschaftlicher Konsens wohl wahrscheinlicher sein?
[1] Frankfurt, Harry (2005): On Bullshit. Princeton UP, S. 6.
[2] ebd. S.6.
[3] ebd. S. 8.
[4] ebd. S. 8.
[5] http://www.hr-online.de/website/radio/hr-info/index.jsp?rubrik=47572&key=standard_document_62098268.