Der dunkelste Tunnel. Metro 2033 Last Light oder die Klaustrophobie unter der Gasmaske
20 September, 2016
Ich sehe nichts. Der Farbfilter ist definitiv zu dunkel. Oder ist es die Sonne, die durchs Fenster scheint? Ich lasse die Jalousie runter. Ratsch ratsch ratsch. Was kann schon passieren – im Intro? Alles nur Cutscene. Ich sitze mit vier Männern in einem Metrotunnel, die Zigarettenspitzen sind hell in der Dunkelheit. Was kann schon passieren in einer Cutscene?
Zu spät.
Ich höre noch einen Schrei, irgendwo weiter vorne im Tunnel, wo die Gleise in die Dunkelheit laufen. Die Männer neben mir springen auf, gezogene Waffen.
Dann sind sie schon hier.
Vier, fünf schwarze Gestalten. Riesig. Lange, dünne Glieder. Die Gesichter wie zerrissen und wieder zusammengenäht. Direkt aus einem Albtraum. Und um mich die Dunkelheit.
Die Cutscene kündigt nicht an, wann ich handeln kann. Ich merke, wie ich wild auf die linke Maustaste klicke – schieß doch! – lange bevor ich schießen kann. Dann schieße ich, die schwarzen Gestalten auf mir, über mir. Ich schieße und schieße.
Sie fallen. Endlich. Einer nach dem Anderen. Aber als sie auf den Gleisen aufkommen, sind sie nicht mehr die Gestalten aus dem Albtraum. Sondern die Männer, mit denen ich eben noch dasaß und geraucht habe.
Der letzte der Dunklen. Er hat mich. Ich schlage blind nach vorne, komme schließlich an mein Messer. Ich ziehe es, stoße in seinen Kopf. Es fährt im direkt in den Schädel. In diesem Moment ist es nicht mehr die schwarze Gestalt. Ich halte meinen Kameraden im Arm. Mein Messer in seinem Schädel. Seine Augen sind seltsam nach oben verdreht.
Er sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen.
Ich lasse ihn los. Um mich liegen die Männer, mit denen ich eben noch geraucht, geredet habe. Der Tunnel ist jetzt noch dunkler als zuvor. Meine Hände sind voll Blut. Als ich aufsehe, steht über mir eine der Gestalten, dunkel wie der Tunnel. Sie streckt ihren Arm nach mir aus.
Ich wache auf. Alles nur ein Traum?
Ab jetzt bin ich auf der Hut in diesem Spiel. Ich verlasse meinen Stuhl nicht mehr. Auch nicht, als draußen die Wolken kommen und die heruntergelassene Jalousie in meinem Zimmer viel zu dunkel ist. Ich bleibe sitzen. Wer weiß, was passiert?
Ich wache auf in einem Bunker irgendwo in den Tiefen der Moskauer Metro. 2033. Zwanzig Jahre nach der nuklearen Katastrophe. Wasser tropft von den Wänden. Die Gänge sind eng und alt. Ein Mann weckt mich. Khan. Er sagt, er habe eine der dunklen Gestalten gesehen, in der Nähe der Botanischen Gärten an der Oberfläche. Eigentlich sollten sie alle vernichtet sein. Vor einem Jahr habe ich ihr Nest zerstört. Vom Fernsehturm aus. Drei Raketen. Wie kann noch einer übrig sein? Noch seltsamer – Khan meint, ich müsse sie finden, diese letzte Kreatur, und mit ihr Kontakt aufnehmen. Nur ich könnte das. Aber warum reden mit diesen Wesen aus einem Albtraum, die offensichtlich in unseren Geist einsteigen und manipulieren? Die Halluzinationen erschaffen, die mich dazu bringen, meinen Kameraden Messer in den Schädel zu rammen? Ich folge Khan zum Anführer der Splittergruppe, deren Teil ich bin: Die Spartan Order. Khan berichtet von seiner Entdeckung. Und seiner Überzeugung, dass wir versuchten müssten, mit dem Dark One Kontakt aufzunehmen. Colonel Miller hört sich Khans Entdeckung an. Die Überzeugung nicht.
Die Befehle von Chef Colonel Miller sind eindeutig: Finde den letzten Dark One. Töte ihn. Khan wird weggebracht.
Mit der Scharfschützin Anna mache ich mich auf den Weg in die Botanischen Gärten. Zur Oberfläche. Die Kacheln an den Wänden der verlassenen Station, in der wir aussteigen, sind voll mit Dreck und Blut. Der Tunnel dahinter – voll Leichen. Kahle Schädel leuchten im Schein meiner Taschenlampe. Ratten fliehen. Schließlich da vorne: Licht. Aus einem Schacht über uns. Die Oberfläche. Ich ziehe die Gasmaske über. Atme schwer.
Das Licht am Ende des Tunnels ist in diesem Spiel keines mehr. Es ist das fahle Licht einer toten Welt. Die Kontamination ist überall. Atmen ist nur möglich durch die Gasmaske. Habe ich keine frischen Filter mehr, bleiben mir nur noch Momente. Der Atem wird schwer, das Ringen nach Luft lauter, die Sicht verengt sich, verschwimmt. Dann ist es vorbei.
Jetzt noch nicht. Ich folge Anna an die Oberfläche.
Oben liegt die Welt in Trümmern. Der saure Regen auf meinem Visier nimmt mir die Sicht. G – ich wische über die Gasmaske. Dreck spritzt unter meinen Füßen. In der Ferne ragt ein dunkler Turm aus den Ruinen – die Lomonosov Universität? Da vorne unter uns sind die Botanischen Gärten.
Und das ausgebrannte Nest der Dark Ones: Ein Krater aus Asche. Es sieht aus wie ein gigantischer Elefantenfriedhof.
Anna nimmt ihre Position ein. Ich muss allein da runter.
Ich checke den Filter meiner Gasmaske, lade nach. Dann springe ich die Böschung hinab.
Etwas kommt!
Nicht der Dark One.
Eine Horde Watchmen – hundeähnliche Mutanten.
Sie kommen von rechts. Von links. Von allen Seiten. Anna schießt aus dem Off, ich mittendrin. Das Brüllen der Monster übertönt beinahe meinen Atem, als er knapp wird. Keuchen. Der Filter ist leer. Ich halte die linke Maustaste weiter gedrückt, schieße, drehe, renne, versuche den Watchmen auszuweichen. Zwischendrin T – Filter wechseln. R – Reload. Das Blut der Monster läuft über mein Visier. G – Gasmaske abwischen.
Ich wünschte, ich hätte mehr Finger.
Dann ist der Sturm vorbei. Ich atme tief ein, tief aus. Diesmal wirklich. Ich vor meinem Bildschirm. Zeit bleibt keine. Da vorne, am Rande des Kraters, ist etwas, höre ich Anna sagen. Es ist der Dark One!
Klein ist es, ein kleines, schwarzes Ding. Es sieht beinahe aus wie ein Kind. Es ist schnell. Springt davon, durch die engen Ruinen des Nests. Anna schießt. Immer wieder. Kein Treffer. Es ist sehr schnell. Ich folge ihm. Ich ziele. Ich schieße nicht. Es sieht beinahe aus wie ein Kind. Ich höre Anna schreien. Ich schieße trotzdem nicht. Da vorne ist eine Sackgasse. Noch ein Schuss aus dem Off. Treffer. Das Wesen fällt, versucht wegzukommen von mir. Ich packe es.
Als ich es berühre, wird alles Schwarz. Ein Tunnel, Eindrücke, Bilder von Menschen, die ich vielleicht gekannt habe. Bilder von mir selbst. Dann stehe ich im Nest der Dark Ones, zwischen ihnen. Sie stehen alle da. So viele. Und sehen zum Horizont. Was ist da?
Ich schaue hin.
Der Fernsehturm. Ein Licht am Horizont. Nein, drei Lichter. Drei Raketen.
Meine.
Sie steigen in den Himmel. Wie ein schönes Feuerwerk. Die Dark Ones schauen. Da hinten, am Rand des Nests, ist der Kleine. Die drei Lichter fallen. Und alles brennt. Der Kleine flieht. Und dann ist da nur noch der Knall. Und alles Licht.
Ich komme zu mir.
Ich liege auf dem Boden im Dreck. Neben mir ein Käfig. In dem Käfig die kleine Gestalt. Schwere Stiefel kommen in mein Sichtfeld. Männer mit grauer Uniform. Gasmasken. Ich höre noch „Guten Morgen“. Dann tritt er mir ins Gesicht. Ich bin weg. Das Reich hat mich.
Dort in meinem Zimmer vor dem Bildschirm drücke ich ESC. Atme tief ein, tief aus. Wie komme ich da jetzt wieder raus? Erst mal einen Kaffee. Eine Pause.
Erst jetzt bemerke ich die Dunkelheit. Die Jalousie ist noch immer unten. Das Zimmer dunkel.
Draußen ziehen die Wolken schneller. Ich lasse die Jalousie hoch.
Die Sonne kommt wieder.