Story Driven Games – Nein, danke! Warum Games keine Story brauchen

15 November, 2016

Spiele wie Fallout 4 oder The Elder Scrolls V: Skyrim sind wie Rotkäppchen. Eben hat man von seiner Großmama noch eingeschärft bekommen, bloß nicht vom Pfad abzukommen, da findet man sich schon wieder im Wald wieder und hinter jedem Baum lauert ein neues Abenteuer, ein Nebenquest – oder eben auch mal ein böser Wolf. Der Pfad, den man uns anfangs so sehr ans Herz gelegt hat, ist schnell vergessen.

Das geskriptete Epos

Ganz ähnlich funktioniert es bei den Open World Giganten. Ja, es gibt den einen Pfad: die Hauptgeschichte. Aber die sind schematisch meist ähnlich innovativ wie ein Abendprogramm mit Mario Barth: Held rettet Welt. Punkt. Natürlich – die Protagonisten sind verschieden, die Antagonisten ebenso und der Weg hin zur Katharsis auch mal so mal so. Aber im Großen und Ganzen wissen wir, was uns am Ende des Pfades – am Ende des Spiels – erwartet.

Das geskriptete Epos ist vorhersehbar.

Ob uns ein Spiel mitreißt oder nicht, ob es uns beschäftigt halten kann, entscheidet sich vielmehr darin, ob es schafft, uns vom Pfad abzubringen.

Weil wir unbedingt erst noch die Höhle erkunden müssen, in der sich dieses unique item angeblich befindet. Weil wir noch den Hinweisen nachgehen müssen und die Morde des Häuters im Brückenviertel aufklären müssen (Baldur´s Gate II). Oder weil wir nur noch zwei Highever Stoffstücke sammeln müssen, bevor wir uns endlich den knallroten Zauberhut craften können (Dragon Age: Inquisition).

Spielen als Erfahrung

Erst indem wir den Pfad verlassen und uns im Wald verlaufen, setzen wir das Potential des Spiels frei. Kurz gesagt: Das Spiel wird erst zum Spiel, indem wir es spielen.

Was das bedeuten soll?

Hier hilft uns ein Blick in Miguel Sicarts „The Ethics of Computer Games“ (2009). Ein Spiel ist zunächst einmal ein Objekt. Es hat bestimmte Regeln. Um z XP zu erhalten, muss der Spieler a Hobgoblins töten. Wenn der Spieler also a Hobgoblins tötet, erhält er z XP.

So weit, so unstrittig.

Was ist nun aber, wenn die Regel so aussieht: Um b XP zu erhalten, muss der Spieler c unschuldige Kinder töten (wir erinnern uns z.B. an die Little Sisters der Bioshock-Reihe). Die Regel ist dieselbe. Aber wir als Spieler reagieren unter Umständen anders.

Warum?

Das Spiel setzt die Regeln fest. Diese Regeln werden aber erst dann aktiv, wenn der Spieler das Spiel spielt. Wenn das Spiel als Objekt also durch den Spieler als Subjekt ´aktiviert` wird. Jetzt ist der Spieler aber (entgegen manch politischer Meinung) kein willenloser Zombie, der auf das Spiel stößt und durch dieses einseitig beeinflusst wird. Als Subjekt beeinflussen wir das Spiel selbst, indem wir es spielen. Damit meine ich nicht, dass wir cheaten, also die Regeln des Spiels umgehen, sondern, dass wir als Subjekte die im Spiel vorhandenen Regeln immer auf bestimmte Art und Weise interpretieren. So haben wir etwa keine Probleme damit, uns durch Massenfriedhöfe von Hobgoblins zu schlachten, ein paar lumpiger XP wegen, fühlen uns aber gehemmt, für dieselben XP Kinder zu töten. Die Regel des Objekts – des Spiels – bleibt gleich. Nur erleben wir diese anders.

Spielen ist zuvordererst eine Erfahrung.[1]

Wir erleben das Spiel auf individuelle Art und Weise. Erst durch diese Objekt-Subjekt-Beziehung wird das Spiel ´lebendig`. Anders gesagt: „To interact with a system is to create meaning“[2].

Noch Spiel oder schon Kino?

Wir lesen also die Zeichen, die das Spiel uns vorsetzt, und interpretieren diese auf bestimmte Art und Weise. Und hier wird es nun spannend: Natürlich ist die Story eines Spiels auch eine Zeichenabfolge, die wir verstehen. Sie lässt aber wenig oder keinen Spielraum für eigene Interpretationen – eigene Geschichten. Die vorgefertigte Story eines Spiels kann narrativ gut oder schlecht sein.  Sie kann uns unterhalten oder langweilen. Sie ist aber in jedem Fall nicht unsere eigene. Wir schaffen Bedeutung (create meaning) hier nur in einem rein technischen Sinne, nämlich indem wir die Zeichenabfolge verstehen, die das Spiel uns vorliest und diese quasi nachspielen.

Ein gutes Beispiel hierfür sind die ´Decision Simulators` bzw. `Interactive Movies´ von Telltale Entertainment. The Wolf Among Us oder die The Walking Dead-Reihe sind narrativ herausragende interaktive Erzählungen. Spiele im eigentlichen Sinne sind es nicht. Sie nähern sich stilistisch dem Medium Film so sehr an, dass der Spieler zwischen Quick-Time Event Nummer 1 bis n zurück auf den Zuschauerplatz verbannt wird. Ähnliches sehen wir in den optisch atemberaubend inszenierten, aber spielerisch äußerst uninteressanten Quick-Time-Sequenzen etwa bei Tomb Raider und Rise of the Tomb Raider. Gutes Kino, denkt sich der Spieler noch, bevor er Maus/Controller aus der Hand legt und zum passiven Beobachter wird. Er nimmt eine äußerst begrenzte Rolle ein: Er spielt einen interaktive Filmsequenz nach der anderen nach, wobei ihm – vor allem durch die ´moralischen` Entscheidungsmöglichkeiten – paradoxerweise zugleich spielerische Autonomie vorgespielt wird. Was dabei oft übersehen wird: Wir können dabei nur die von der Story vorgegebenen, sehr begrenzten Handlungsäste nachspielen, aber keine wirklich eigenen Geschichten erleben.

Das Dilemma

Gerade bei den ´Decision Simulators`, die ja auf durchaus interessante Art und Weise moralische Konflikte in die Story von Games einzubringen versuchen, führt das zu einem ziemlich seltsamen Dilemma:

Obwohl das Spiel betont moralisch konzipiert ist und auf die moralische Entscheidungsfähigkeit des Spielers  abzielen will, bewirkt es genau das Gegenteil: Es entmündigt den Spieler moralisch, weil es ihn auf die Zuschauerposition verbannt.

Auch hier wieder: Das Schaffen von Bedeutung reduziert sich darauf, der vorgesetzten Story folgen zu dürfen. Natürlich, zwischen dem Leben zweier Menschen entscheiden zu müssen (save Doug vs. Carley in The Walkig Dead Episode I) ist ein moralisch extrem schwieriges Dilemma. Aber: Telltale drängt uns eine moralische Entscheidung auf, deren Konsequenzen jeweils eindeutig vorgegeben sind, weil sie irgendein Subjekt auf Basis irgendwelcher Werte (die uns im Übrigen überhaupt nicht transparent gemacht werden) implementiert hat. Insofern spielen wir keine moralischen Dilemmata durch, sondern spielen eine ganz bestimmte, moralisch aufgeladene Story nach. Und indem wir diese Story nachspielen, wird die Bedeutung prävalent, die die Entwickler in die Story eingeschrieben haben. Alternativen dazu, unsere eigenen Geschichten, bleiben in diesem linearen Storytelling außen vor.

Sapere aude! Ein Hoch auf unsere Geschichten

Bedeutung schaffen wir als Spieler dann, wenn das Spiel uns den Pfad verlassen lässt. Für eine gute Erzählung brauchen wir keine Story. Im Gegenteil. Ein gutes Spiel lässt uns unsere Story selbst schreiben, unsere moralischen Entscheidungen selbst definieren. Sapere aude in Games! Habt den Mut, euch eures eigenen Verstandes zu bedienen. Wir können dann am ehesten unsere eigenen Geschichten erleben, wenn das Spiel in Bezug auf seine Story laissez faire betreibt. Natürlich setzt das Spiel bestimmte Regeln fest. Stellen wir uns das Ganze als einen Boxring vor: Das Spiel legt fest, wie groß der Ring ist, welche Begrenzungen er hat, auf welche Gegner wir darin stoßen können und welche Handlungen und Interaktionen darin erlaubt sind. Dann schickt uns das Spiel in den Ring. Und wünscht: Viel Glück! Die Story hat die Aufgabe, uns ab und an ein Handtuch zu reichen, eine Erfrischung. Sie hat aber nicht in den Ring zu springen und unsere Aktionen zu führen. Sicart trifft das Ganze ziemlich genau: „Even good narratives have to be subordinate to the player-system relation and its ethical implications“[3].

Lasst uns alle mal vom Pfad abkommen!

In diesem Sinne ist ein Spiel wie DayZ im Vergleich zu Telltales ´Decision Simulators` weitaus interessanter. Hier gibt es statt einer Story lediglich eine Spielwelt, die den Spieler in ein bestimmtes Szenario wirft: Die Zombie-Apokalypse. Ohne irgendeine weitere Rahmengeschichte agiert der Spieler intuitiv – er versteht die Zeichen der Spielszenerie, so minimalistisch sie auch sind, ohne Weiteres: Was macht man in der Zombie-Apokalypse? Überleben, essen, trinken, überleben. Dabei trifft er auf Mit- und Gegenspieler, Zombies und überhaupt eine aktive, wenn auch noch immer verbuggte, Spielwelt. Und obwohl – oder eben gerade weil –  das Spiel ihn in keine unmittelbaren moralischen Entscheidungen zwingt, kommt es doch zu genau diesen. Von Kannibalismus bis Altruismus – die moralische Spannweite der Spieler in DayZ ist breit. Die Spieler interpretieren und nutzen die vom Spiel vorgegeben Regeln auf vielfältige Art und Weise und eben daraus ergeben sich individuelle Geschichten.

Und diese Geschichten sind für uns als Spieler letztlich die Stories, die zählen. Warum wir spielen.

Lasst uns also vom Pfad abkommen und uns tief, tief im Wald verirren!

Und wenn wir dann am Ende Fallout 4 spielen und so darüber berichten: „Strike out into the wasteland on a mission to find the man who kidnapped your infant son Shaun. Until you get distracted by picking up garbage. Building a basketball court. Rescuing a beer-making robot. Pretending to be a super hero. Helping a nerd get laid. And accessorizing your dog. Wait…who is Shaun again?“[4] – Dann hat das Spiel alles richtig gemacht.


Abb. 1: http://1u88jj3r4db2x4txp44yqfj1.wpengine.netdna-cdn.com/wp-content/uploads/2013/03/the-walking-dead-graph-by-gamesbeat.jpg.
[1] Sicart, Miguel: The Ethics of Computer Games. MIT 2009: S. 36.
[2] Sicart, Miguel: The Ethics of Computer Games. MIT 2009: S. 35.
[3] Sicart, Miguel: The Ethics of Computer Games. MIT 2009: S. 161.
[4] https://www.youtube.com/watch?v=Y90uj8hs78c.