Chronik eines unwahrscheinlichen Sturzes

21 September, 2018

14. Juli 2018, Krankenhaus Lauf a.d. Pegnitz

Vor etwas mehr als einem Monat stand ich mit meinem Fahrrad am Nordkap. Nachdem ich zuvor 30 Tage lang ohne einen einzigen Pausentag die 3.400 km von Nürnberg dorthin zurückgelegt hatte. Allein. Nur mit meinem Rad und Zelt.
Jetzt liege ich mit einem zertrümmerten Bein seit einer Woche im Krankenhaus. Ein Unfall mit dem Mountainbike im Schlepplift, nichts Dramatisches, nichts Leichtsinniges. Eine Banalität, die in meinem Bein nichtsdestoweniger einen Trümmerbruch verursachte und auch das Kniegelenk in zerstörte. 50 Trümmer. Alle in meinem rechten Bein. Notoperation in der ersten Nacht. Kompartmentsyndrom. Die Gefäße standen kurz vorm Zerplatzen. Dann hätte ich das Bein verloren.
Kurz und knapp: Ein komplizierter Bruch. Ein langer Weg zur Genesung. In welche Richtung diese am Ende gehen wird, weiß niemand.
Vor etwas mehr als einem Monat stand ich am Nordkap und hatte eine Rundumsicht dieses kargen, schneebedeckten Endes der Welt. Vor mir der Ozean. Dahinter nichts. Ich roch den Wind und die Wolken und den Schnee und all diese Freiheit dazwischen.
Jetzt liege ich seit einer Woche in derselben Position im Krankenhausbett.
Ein Fixateur, ein externes Metallgestänge, das an vier Stellen in Oberschenkelknochen und Schienbein verbohrt ist, hält meinen noch unbehandelten Bruch in Position. Ich kann nicht aufstehen geschweige denn gehen. Mein ganzes Leben spielt sich in ein und derselben Position ab. Neben mir meine Habseligkeiten auf die Größe eines Krankenhaustisches verteilt. Draußen vor dem Fenster brennt der Sommer und Vögel zwitschern. Manchmal hört man Kinder lachen.
Vor etwas mehr als einem Monat war ich am Horizont und der Horizont in mir und der Himmel war überall um mich.
Jetzt sehe ich einen kleinen Ausschnitt des Himmels durchs Krankenhausfenster, eine Erinnerung an den Horizont. Mehr nicht.
Der Himmel ist fern jetzt. Auch der Horizont. Und gerade der absurde Kontrast zwischen der absoluten Unabhängigkeit des allein Reisenden unter freiem Himmel und des bewegungsunfähigen Kranken in ein und demselben geschlossenem Raum, Tag für Tag, trifft schwer.
Ich weiß nicht, was sein wird. Aber ich sehe, dass dies eine weitere Reise ist. Die schwerste bislang. Schwerer selbst als der letzte Tag zum Nordkap mit 140 km Eis in der Luft und extremem Gegenwind und 29 Reisetagen in den Beinen. Hier geht es nicht mehr um das Erreichen ehrgeiziger sportlicher Höchstleistungen oder das Gehen an die eigenen Leistungsgrenzen.
Hier geht es darum, am Rande der Nacht nicht in die Dunkelheit zu fallen.
Nicht aufzugeben, nicht den dunklen Gedanken oder zweifelnden Stimmen Gehör zu schenken. In der Bewegungsunfähigkeit und im Schmerz und dem Unwissen, was sein wird liegt ein letztes, ein größtes Rückfallen auf das Selbst.
Hier geht es darum, am Rande der Nacht das Licht nicht aus den Augen zu verlieren.

2. August 2018, Krankenhaus Lauf a.d. Pegnitz

Fast vier Wochen lang in der immergleichen Rückenlage auf dem bleichgrauen Krankenhausbett liegend.
Das rechte Bein nach drei Operationen ein Trümmerfeld aus Blutergüssen, Schwellungen, kreischenden überdehnten Bändern und pochenden Knochen, die ihren Weg zueinander erst wieder finden müssen.
Drei Wochen lang der Blick an dieselbe Decke,  dasselbe Fragment Himmel vor dem Fenster.
Die Nächte gehören dem Schmerz und sind endlos. Die Tage ziehen im immergleichen Takt der Krankenhausroutine vorüber. 8.30 Uhr Frühstück und Pillen. Visite. Waschen im Bett. Fieber messen, Blutdruck. Wunderbar. Liegen liegen liegen. 12.30 Uhr Mittagessen und Pillen. Liegen liegen liegen. Nachmittags Thrombosespritze, Fieber messen, Blutdruck. Wunderbar. 17.00 Uhr Abendessen und Pillen. Ab dann tut sie spätestens weh, die schleichende Zeit. 23.00 Uhr mehr Pillen.
Die immergleichen Fragen, Tag für Tag. Plötzlich ist man Zeitreisender, in einer Endlosschleife feststeckend, rotierend bis zum Ende aller Tage. Und alles tut weh.
Dann die Nacht. Draußen in einem anderen Krankenhausflügel schreit einer, Nacht für Nacht. “Hilfe” schreit er und “Nein” und ist wohl ganz gefangen in seiner eigenen Dunkelheit. Manchmal bellt ein Hund. Die Notfrufsirene der Schwestern hallt in regelmäßigen Abständen durch den Flur. Aber das alles ist es nicht, was mich vom Schlaf fernhält.
Es ist das Reißen und Schieben in meinem Bein, das Pulsieren der Schwellung, der Druck im wunden Fleisch. Aber noch viel mehr als das sind es die Schatten am Rande meines Bewusstseins. Sie lauern und knirschen mit den Zähnen und auf ihrer bleichen Stirn stehen ihre Namen und die sind ANGST, SELBSTMITLEID, VERZWEIFLUNG, TRAUER. Sie sind hässlich und bohren kleine Löcher in die Stärke, die ich zu haben mir einbildete und zersetzen diese. Zerfleddern meinen Mut. Spucken auf meine Zuversicht.
Aber dann änderte sich etwas.
Ich glaube, es war der Tag, an dem ich das erste Mal stand. Aufrecht. Freilich an einer Gehhilfe lehnend, zitternd und bleich vor Schmerz und Übelkeit und es waren gerade mal ein paar Sekunden bis maximal eine Minute, in der ich stand, bevor mich der Arzt aus Angst vor einer Ohnmacht wieder zurück ins Bett legte. Aber ich stand.
Oder vielleicht war es auch der Tag, an dem die Physiotherapeutin, die mich gar nicht behandelt, die aber meine Krankengeschichte verfolgt hatte, sich zu mir ans Bett setzte und zu erzählen begann. Von ihrem eigenen schweren Unfall mit Trümmerbruch vor Jahrzehnten, als sie hochschwanger war und behandelt werden musste – ohne Schmerzmittel aus Rücksicht auf das ungeborene Kind. Wie sie mir erzählte, dass auch das ginge. Dass jeder Albtraum ein Ende hat, wenn wir es so beschließen. Dass wir den Schmerz wegatmen können. Dass wir uns nicht beugen müssen. Dass unser Geist mächtiger ist als wir denken und unser Körper weit weniger fragil, als wir fürchten.
Oder vielleicht war es der Tag, an dem mir ein beinahe Fremder, ein flüchtiger Bekannter, der durch Zufall gerade auf einer langen VW-Bustour durch Skandinavien bis ans Nordkap und wieder zurück war und gewissermaßen meine Reise mit dem Rad von Nürnberg zum Nordkap nachvollzog, ein Bild abfotografierte, das er für mich gemalt hatte. Er hatte gerade den Nordkap-Tunnel durchquert und musste an mich denken. Meine Fahrt mit dem Rad durch den 7 km langen Tunnel, der über 200 m unterhalb der Wasseroberfläche liegt, schlecht beleuchtet und belüftet ist empfand ich extrem beängstigend und klaustrophobisch, was ich hier schilderte. Dieser Bekannte schlug nun kurzerhand den Bogen zwischen meinen beiden Reisen: Diese große, beschwerliche Reise jetzt sei ganz ähnlich wie meine Fahrt durch den Nordkap-Tunnel. Aber, so schließt die Zeichnung, das Gute an jedem Tunnel ist das Licht an dessen Ende.
Vielleicht war es auch der Tag, an dem ich das Zimmer zum ersten Mal verließ. Auf einen Gehwagen gestützt lief ich los. Lief wirklich, was ich mir noch wenige Tage zuvor in meinen kühnsten Träumen  nicht ausgemalt hätte.
Dann stand ich draußen im Flur. Und lief weiter. Jede und jeder der Pfleger, die ich auf dem Weg traf, lächelte, grüßte, den Daumen nach oben. Alle hatten die letzten Wochen erlebt. Sie wussten, dass ich das Bein fast verloren hätte. Sie wussten von der Schwere des Bruches. Unterschenkel und Kniegelenk. 50 Trümmer, fein säuberlich zerstört. Sie haben die Schmerzen, die Tränen, die Schreie gehört. Sie waren dabei gewesen. Weil es ihr Job ist. Aber jetzt schien sich das ganze Krankenhaus zu freuen. Es geht bergauf, hörte ich von allen Seiten. Und ich lief immer weiter und weinte und lachte zugleich.
Oder vielleicht war es der Tag, an dem mich ein Freund kurzentschlossen in einen Rollstuhl setzte und raus schob. Draußen vor die Tür. Nur für einen Moment. Raus vor den Eingang, auf den Parkplatz. Wo man den Horizont sieht. Wo der Wind sachte weht. Wo ich weinen musste, weil auf einmal so viel Welt um mich war.
Vielleicht war es die erste Nacht, in der die Dunkelheit einfach nur die Dunkelheit blieb. Die Schatten lauern weiterhin, sie kratzen den Schorf auf meinen Ängsten auf und flüstern boshafte Fragen in meinen Geist.
Und der Schmerz bleibt, begleitet mich wie ein guter Freund, der mich daran erinnert, dass mein Bein ganz und gar kaputt ist. Und zugleich ganz und gar lebendig. Jeder Grad Biegung meines Kniegelenks, um den ich kämpfe, schmerzt.
Jeder Grad Biegung ist ein Triumph.
Ein Jetzt Erst Recht.
Ein Trotzdem.
Dieses Trotzdem baut auf dem Willen auf, der an Kilometer 19 vor dem Nordkap, nach knapp 3.400 km und 30 Tagen radfahren ohne Pausentag davor, beinahe aufgegeben hatte. Der dann aber wieder aufstieg und weiterfuhr. Es ist derselbe Wille, den es nun braucht, um wieder aufzustehen. Und weiterzulaufen.
Dieses Trotzdem baut aber auf noch viel mehr. Auf der Psychotherapeutin, die einfach zu erzählen begann. Auf die Pflegekräfte, die mir den erhobenen Daumen entgegengestrecken, Tag für Tag. Auf dem Chefarzt Dr. Groß, der nicht nur eine chirurgische Meisterleistung vollbracht hat, sondern mir den Glauben gibt, dass ich diese Reise schaffen kann und mir das Vertrauen vermittelt, dass ich auf die Ängste am Rande der Nacht nicht hören brauche. Auf den beinahe Fremden und seine Nordkap-Tunnel-Parabel. Auf jeden einzelnen Unbekannten der mir hier oder auf Facebook oder instagram ode über sonstige digitale Kanäle Mut und Zuversicht zuspricht oder auch seine eigene Geschichte erzählt. Auf die Freunde und die Familie, die lieben und nicht aufhören damit, egal wie verquollen verheult oder verzweifelt ich war und noch immer manchmal bin.
Und mit jedem Tag wächst diese Trotzdem. Eines Tages wird es Beine bekommen. Und mich davontragen. Zurück zum Horizont.

2. September 2018, Nürnberg

Die schmerzhafteste Illusion: Ich muss nur das Krankenhaus verlassen. Dann ist alles gut. Wenn ich diesen Ort verlasse, der so grundlegend mit meinem Schmerz, meiner Bewegungsunfähigkeit, meinen Fieberträumen verknüpft ist, lasse ich zugleich auch diese hinter mir. Ich muss nur das Krankenhaus verlassen. Dann würde mein Bein wieder heil sein. Indem ich nur den Ort meines definitorischen Leids hinter mir ließe, müsste sich alles wieder zurechtrücken.
Nach über einem Monat im Krankenhaus ist es soweit.
Aber.
Natürlich geschieht nichts davon.
Ich bin draußen.  Aber ich kann weiterhin nicht laufen.
Schlimmer noch: Ich kann nicht weglaufen.

21. September 2018, Nürnberg

Ich verbringe den Abend im Biergarten. Sehe alle Freunde wieder, die versammelte Mountainbike-Szene Nürnbergs. Ich trinke sogar ein Radler, das erste Mal wieder Alkohol nach wochenlanger wechselnder Schmerzmedikation, Entzugserscheinungen, Schlaflosigkeit, neuen Medikamenten. Ich beantworte die immergleichen Fragen wieder und wieder und halte die mitleidigen Blicke aus – „Dich so sehen zu müssen…“. Ich liebe jeden von ihnen. Und sie meinen es ehrlich. Ich hasse mich dafür, dass es mich anstrengt. Ich lächle. Irgendwann erschöpft mich das. Ein Freund fährt mich heim. Er hatte erst vor kurzem selbst einen Bikeunfall mit gebrochenem Scham- und Kreuzbein und geht auch auf Krücken.
Auf Höhe der Theodor-Heuss-Brücke kommt der Zusammenbruch. Er beginnt irgendwo zwischen Lunge und Herz und schlägt Krallen in meinem Hals. Der Freund bremst abrupt, blinkt rechts, hält an. Er packt meinen Kopf mit beiden Händen, die zwei paar Krücken sind linkisch verkeilt zwischen uns, zwischen Fahrer- und Beifahrersitz.
„Schau mich an“ sagt er.
Ich kriege keine Luft mehr.
Schließlich kommt da was aus meinem Mund, was irgendwo viel tiefer drinnen sitzt.
„Ich bin noch immer in diesem Zimmer“.
Es klingt nicht wie meine Stimme.
„Wo willst du hin? Willst du schreien? Wir fahren irgendwo hin. Irgendwo, wo du schreien kannst“ sagt er.
Es tut fast weh, so fest hält er mich.
Ich nicke.
„Ich will zum Buck“.
„Dann fahren wir da hin“.
Wir fahren zum Schmausenbuck. Oben, bei den Sandsteinfelsen, auf der Anhöhe steht eine Bank. Von dort aus gehen die Lines los, die Felsen hinab, über Wurzeln, durch den Wald. So oft bin ich dort gefahren – vor dem Unfall. Oft allein, sommers wie winters. Ich habe das Mountainbiken dort begonnen. Habe die ersten kleinen Sprünge dort versucht, habe Ängste überwunden, bin gestürzt. Bin wieder aufgestanden. Ich war glücklich dort.
Seit dem Unfall war ich nicht mehr da.
Wir fahren durch die Nacht. Der Wald steht stumm und schwarz und die Straße bergauf wird im Scheinwerferlicht wie ein Tunnel in die Endlosigkeit. Oben müssen wir noch ein Stück laufen. Wir gehen nebeneinander, die Krücken klingen dumpf im Staub. Es ist rutschig, es ist leichtsinnig, es ist dumm. Aber ich muss hinauf. Ich habe das Gefühl ich musste noch nichts so sehr in meinem Leben, als diese Bank zu erreichen, oben auf der Anhöhe.
Schließlich sind wir oben.  Es ist stockfinster. Wenn ich mich anstrenge sehe ich die Schemen des ersten kleinen Sprungs da unten. Wenn ich mich anstrenge, kann ich beinahe den Lenker an den Handflächen fühlen, höre die Kette klackern, wenn ich aus dem Stand – wie ich es immer tue dort oben – in einen größeren Gang schalte für die Abfahrt, spüre die verstellbare Sattelstütze, die ich nach unten drücke. Abfahrtbereit.
Ich sollte schreien.
Deswegen sind wir hier.
Aber nun hat mich die Stille dieser Nacht und der Erinnerung, in der es einerlei ist, ob ich meine Augen offen habe oder geschlossen.
Und mit der Klarheit eines unerwarteten Gedanken erinnere ich mich an ein Fragment, vor Jahren gelesen, gekritzelt auf einen Zettel und abgelegt zwischen getrockneten Kleeblättern und alten Liebesbriefen:
Still.
Still.
Ward die Welt nicht eben vollkommen?
Wir nehmen die Krücken und treten den Heimweg an.
Heute Nacht habe ich nicht schreien müssen.