Ride or die?

16 September, 2018

Ein „tragischer“ Unfall. „Besonders unglücklich“.  „Bedrückend“. Das sind so die Adjektive, die genannt werden.
Bei  einem Fall wie dem von Gela Allmann, der deutschen Trailrunning- und Skitourenläuferin, die 2014 in Island einen vereisten Hang hinabstürzte. 800 m fiel sie in die Tiefe. Überlebte schwerverletzt.
Bei einem Fall wie dem von US-Bergsteiger Aron Ralston, dessen rechte Hand 2003 bei einer Canyonquerung in Utah von einem herabfallenden Felsbrocken eingequetscht wurde und der sich, nach fünf Tagen und kurz vor dem Tod durch Dehydration, schließlich am eigenen Unterarm amputierte. Überlebte schwerverletzt.
Und zuletzt, traurig aktuell, bei einem Fall wie dem von Kristina Vogel, deutsche Bahnradsportlerin und zweifache Olympiasiegeri, die in einem Routinetraining gegen einen Kollegen prallte. Nun querschnittgelähmt.
Adjektive, die letztlich unpassend sind. Weil sie die Reichweite derartiger Unfälle schlicht nicht abbilden können. Sie sind weder fähig, der Tragweite der Unfallkonsequenzen angemessen Ausdruck zu verleihen.  Dafür sind diese Adjektive zu zahnlos, zu seicht, zu ausgewrungen. Andererseits konstruieren sie eine  vermeintliche Tragödienhierarchie, die nur zynisch sein kann. Denn was, am anderen Ende des Spektrums quasi, sind denn „nicht tragische“ Unfälle? Was macht einen Unfall denn „unglücklicher“ als einen anderen? Gibt es gar „glückliche“ Unfälle? Und wann ist ein Unfall nicht „bedrückend“?
Die Tragödie ist selten episch. Selten scheitern wir spektakulär im Wettkampf, brechen kurz vor der Ziellinie zusammen. Oft geschieht das Unaussprechliche an den Nebenschauplätzen unseres Lebens. Kristina Vogels Unfall geschah in einem Routinetraining. Gela Allmann stürzte bei einem Fotoshoot, Aron Ralston bei einer an sich unspektakulären Canyon-Begehung.
Die Katastrophe kennt selten die Epik der griechischen Tragödie. Sie vollzieht sich oft ohne Publikum, in der Nebensächlichkeit. Wir stürzen auf den uns eigentlich wohlbekannten Hometrails schwer, wir verunglücken im Training, in der vermeintlichen Routine. Vielleicht rutschen wir einfach nur in der Dusche nach der Abendrunde aus und tragen schwerste Verletzungen davon.
Die Katastrophe ist oft banal.
Vor nun zwei Monaten entglitt mir beim Ausstieg aus dem Schlepplift im Bikepark der Liftbügel, blieb an meinem Oberschenkel hängen und verdrehte diesen, während mein Fuß am Pedal eingerastet war, ruckartig. Die Folge: Trümmerbruch im Schienbein und perforiertes Kniegelenk. Fünfzig Trümmer im Bein. Notoperation in der ersten Nacht, da der Überdruck im Unterschenkel so anstieg, dass die Gefäße zu platzen drohten und das Bein nur gerettet werden konnte, indem eine Kompartmentspaltung vorgenommen wurde. Das heißt: Der Unterschenkel wurde beidseitig von Knöchel bis Knie in zwei langen Schnitten geöffnet und für Tage klaffend offengehalten, damit der Druck entweichen konnte. Einsatz eines externen Fixateurs, eines Metallgestells, das an vier Punkten in Oberschenkel- und Unterschenkelknochen mit langen Metallstäben verbohrt wurde, um die Trümmer stabil zu halten. Zwei Wochen komplette Bewegungsunfähigkeit im Krankenhausbett. Immer auf dem Rücken liegend. 24 Stunden. Tag für Tag für Tag. Der immergleiche Blick an die Zimmerdecke und aus dem Krankenhausfenster. Die Welt draußen beschränkt auf das Stückchen Flur, das ich sah, immer wenn die Tür aufging.
Und das, nachdem ich kurz davor erst in 30 Tagen mit Rad und Zelt von Nürnberg zum Nordkap gefahren war. Allein unter freiem Himmel, immer der Straße nach Norden nach. Am Polarkreis vorbei, durch Lappland hindurch. Tagelang nichts außer der Horizont vor mir, die Pedale unter mir und das ein oder andere Rentier. Dieser unbedingten Freiheit folgte die radikale Bewegungslosigkeit. Ich war einen Monat im Krankenhaus. Genauso lange, wie ich zum Nordkap gebraucht hatte. Die Diagnose: In einem Jahr werde ich wieder laufen können ohne Gehhilfen. Ein Jahr ist lang.
Und alles wegen einer Lappalie. Einem winzigen, unmöglichen Moment. Ich fragte einen Arzt, der meine Geschichte noch nicht kannte, was er denn vermuten würde, wenn er nur die Röntgenbilder sehe, wie es zu dem Schaden kam. Die Antwort war: Hochrasanztrauma – schwerer Motorradunfall.
Nun. Es war ein Schlepplift. Mit ca. 3 km. Im Bikepark.
Banal.
Von Epik keine Spur.
Die großformatige Scheiße ist schrecklich unspektakulär. Ein falscher Schritt. Ein winziger Moment der Unaufmerksamkeit. Ein Blinzeln im falschen Moment. Und alles ist anders. Und nichts wie davor.
Vor meinem Unfall waren die Narben, die mir das Biken eingeschrieben hatte, beinahe Beweis meiner Passion. Als es mir an einem Felsen im Bikepark Ochsenkopf den Handschuhe zerfetzt hatte und meine Armbanduhr und das Fleisch am Knöchel darunter gleich mit. Die Naht am Ellebogen aus Finale Ligure. Das Loch am Schienbein von den 3-Länder-Enduro-Trails.
Wir Biker kennen das. Perforierte Schienbeine, gestanzte Knöchel, frakturierte Schlüsselbeine…
So manch einer trägt seine Narben wie der Pirat die Augenklappe. Ein Veteran auf dem Schlachtfeld, in diesem Fall das Wurzelfeld. So auch ich.
Harakiri-Slogans wie „Wer später bremst ist länger schnell“ oder „Geschwindigkeit bringt Sicherheit“ zelebrieren ein Konzept des Leben-am-Limits, das doch nur Illusion ist. Denn am Montag spazieren die meisten von uns doch wieder brav ins Büro und leben unser Leben von 9 to 5, nur um am Wochenende im Bike Park dann das radikale Kontrastprogramm zu fahren. Leben-am-Limit: Die Wohenend-Edition quasi. Gäbe es da etwa was, das wir zu kompensieren hätten?
Dieses Leben-am-Limit: Die Wochenend-Edition ist aber leider nur genauso lang erwünscht, solange sich die Unfälle auf den ein oder anderen spektakulären Kratzer beschränken, der für epische Geschichten im Biergarten reicht. Niemand von uns will es wirklich – das Limit.
Die Geschichten aber sind eingeschrieben auf unserer Haut als könnten wir sie sonst nicht erzählen.
Aber wovon erzählen sie eigentlich? Erzählen sie von wirklichem Mut, von Tapferkeit, von einem Hinauswachsen über uns selbst? Haben wir das Leben anderer unter Risiko des eigenen bewahrt? Haben wir gegen Ungerechtigkeit gekämpft, für Zivilcourage und dabei uns selbst in Gefahr gebracht?
Meistens sind wir doch einfach nur ausgerutscht. Haben den Sprung zu kurz genommen, haben die nasse Wurzel da vorne unterschätzt oder den Drop zu spät gesehen.
„Wer nie stürzt, der fährt nicht am Limit“.
Aber wo ist das Limit? Und ja, wo dessen Sinnhaftigkeit?
Sicher, es geht ums biken. Nicht darum, die Welt zu retten. Aber nehmen wir unsere eigene tragische Tiefe dabei nicht manchmal zu ernst?
Wir stehen auf und fahren weiter. Warum wir das tun, dafür gibt es genauso viele Gründe, wie es Biker gibt. Und das ist gut so. Also fahren wir. Nur manchmal, manchmal, sollten wir uns daran erinnern, dass es zwar epische Trails gibt. Aber Epik auf Trails eigentlich selten stattfindet. Unsere Narben erzählen natürlich Geschichten. Und es gibt die Bedingung nicht, dass Narben nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie zu irgendeiner Verbesserung auf irgendeinem global scale beitragen (wie auch immer eine solche aussehen könnte).
Aber manche Geschichten sind eben deshalb tragisch, schlicht weil sie schrecklich banal sind.
Liegt die Tragödie also gar in der Banalität, nicht in der Epik?