Vom Biker, der auszog, Achtsamkeit zu lernen

1 Oktober, 2018

Das ZEIT Magazin kürte jüngst die App Headspace zu einer der „50 Ideen für ein besseres Smartphone“. In der App sollen wir unsere mindfulness trainieren. Heißt: In frei wählbaren Sitzungen von zwei, fünf oder zehn Minuten Dauer erzählt uns die beruhigende Stimme eines jungen Mannes mit reassuring Oxford English accent, dass wir ganz im Augenblick aufgehen sollen.
Kurz: Headspace ist eine App, die Achtsamkeit schulen soll. Ganz bequem, vom heimischen Sofa aus. Wie das Ganze dann aussieht? Der junge Mann weist uns an, uns ganz und gar dem Moment unseres Seins zu ergeben. Die Gedanken – im wahrsten Sinne des Wortes – fliehen zu lassen. Ziel: Auf uns selbst zurückzufallen, körperlich wie mental. Denn darum geht es in der Schule der Achtsamkeit. Ursprünglich ein meditativer Ansatz, der das Hier und Jetzt ins Zentrum rückt, ohne dieses zugleich bewerten zu wollen, ist der Begriff der Achtsamkeit in einer als zunehmend rastlos rasend empfundenen Moderne weit über seinen ursprünglichen Wirkungskreis hinaus en vogue.
Was hat das mit Biken zu tun? Nun, ich argumentiere, dass ebendiese Achtsamkeit auf einem Rad ebenso gut – wenn nicht sogar besser – geschult werden kann als auf dem heimischen Sofa.
Der zentrale Fixpunkt der Achtsamkeit ist das Jetzt. Denn allzu oft drehen sich unsere Gedanken im Alltag um das Vergangene oder um das Zukünftige. Um Sorgen, die wir haben, um alten Kummer und die Unsicherheit des Morgen. Kurz: Allzu oft bewegen sich unsere Gedanken innerhalb von Wendekreisen, die wir weder ändern (das Vergangene ist vergangen) noch beeinflussen können (Es ist die genuine Eigenschaft der Zukunft, immer ungewiss zu sein).
Das Biken, und hier vor allem das Mountainbiken mit seinen spezifischen Herausforderungen im Gelände, die höchste Konzentration notwendig machen, zwingt uns gewissermaßen ganz natürlich in diesen Zustand der absoluten Gegenwärtigkeit.
Wir kennen das: Wenn wir unsere Gedanken auf dem Trail nicht unter Kontrolle haben, wenn die Konzentration abschweift, wird es – gerade in schwierigem Gelände – schnell gefährlich. Das Mountainbiken versetzt uns also in das unbedingte Jetzt, den Moment selbst. Nur wenn wir hier und jetzt sind, auf dem Bike, körperlich ebenso wie mental, öffnet sich der Trail vor uns in all seinen Facetten.
In dem Augenblick, da wir aufs Bike steigen, müssen wir das Hier jeder Wurzel und das Jetzt jedes Steins anerkennen.
Erst dann unten, am Fuß des Berges, am Ende des Trails, wenn wir einen Augenblick innehalten, um Luft zu holen, geht uns auf, dass wir für die Dauer des Runs nicht an den Stress gedacht haben, den wir auf der Arbeit haben oder an den Zwist mit jenem Freund oder überhaupt an die Sorgen, die uns sonst konstant zu plagen scheinen. Für die Dauer des Runs waren wir frei – frei von Gedanken, die sich nicht mit dem unmittelbaren Sein beschäftigen.
Als ich noch als Angestellte an der Uni gearbeitet habe, bin ich oft, wenn ich unzufrieden war oder mir der Stress – wie es so schön heißt – über den Kopf gewachsen ist, direkt nach der Arbeit auf mein Bike und bin schnurstracks den nahe gelegenen Berg hinaufgestrampelt – hinter dem nichts mehr lag außer das weite Land. Der Weg hinauf war oft mühsam, beschwerlich und sämtliche Gedanken spukten mir im Kopf herum.
Aber spätestens, wenn ich oben angekommen war, sich der Blick auftat ins weite Land und ich die Uni, meine Arbeitsstätte und – gewissermaßen in diesen Momenten – der Kulminationspunkt meiner Alltagssorgen, unter mir da liegen sah, klein wie eine Spielzeugnachbildung derselben, spätestens dann war ich im Jetzt angekommen. Die örtliche Distanz war sozusagen zur emotionalen Distanz geworden. Ich spürte dann nur noch meine brennende Lunge, den Wind auf meinem Gesicht und die Wolken über mir, wenn ich in den Trail einstieg. Aus dieser emotionalen Distanz, die sich einstellte, ergab sich zugleich eine Abkehr von der Reflexion. Oder anders: Ich dachte natürlich noch nach (denn ganz ohne Denken geht es dann bekanntlich doch nie, denn selbst wenn wir an nichts denken würden, würden wir doch eben an Nichts denken), aber meine Gedanken drehten sich nicht mehr müßig im Kreis um etwaige Sorgen oder Ängste, sondern um die Beschaffenheit des Gegenwärtigen. Ich nahm den Untergrund wahr, wie er sich in dem Moment vor meinem Auge entwickelte. Ich reagierte auf Hindernisse im Rahmen meiner Fähigkeiten und ließ ansonsten den beiden Rädern unter mir freien Lauf. Und sie trugen. Und sie trugen mich durch die Gegenwart wie durch einen Strom, der weder Anfang noch Ende kennt und in dessen Lauf ich mich ganz und gar ergeben kann, weil er nichts von mir erwartet außer zu sein.
So lernen wir auf dem Bike Achtsamkeit – ganz ohne Smartphone, ganz ohne beruhigende Oxford English Stimme aus dem Off – mitten im Wald, zwischen Erde und Himmel. Den Wind im Haar.