Game Studies Klassiker Vol. I – Miguel Sicart: The Ethics of Computer Games

15 Dezember, 2016

Wenn wir von der Ethik eines Spiels sprechen, was meinen wir damit? Können wir von der Ethik eines Spiels überhaupt sprechen, oder geht es nur um die Ethik des Spielers? Ist ein Spiel als solches schon ethisch? Oder wird es erst zum ethischen Objekt, indem es gespielt wird? Und was heißt das alles eigentlich für uns als Spieler?

Let´s Start

Miguel Sicart meint: Das ethische Element eines Spiels liegt weniger in seinem Anstrich (world), sondern in seinem Gerüst (system): „Rules create the game; the fictional world contains it“[1]. Es reicht also nicht, wenn wir uns nur die anschauen, wie die Spielwelt oder die Story ist. Wir müssen schauen, wie das formale System designt ist und wie es das Spiel als Ganzes beeinflusst.[2]

Soweit die These. Schauen wir uns das genauer an.
Wie immer in der Wissenschaft. Fangen wir mit einer Definition an.
*seufz*

Definition

Computerspiele sind zunächst mal Objekte, die uns simulierte Umgebungen bieten, mit denen wir auf bestimmte Art und Weise interagieren können. Vorausgesetzt natürlich, wir unterwerfen uns den Regeln dieser Interaktion. Die im Spiel angelegten Regeln beeinflussen die Interaktionen, das Verhalten und die Identität des Spielers (im Spiel).[3]

Klar soweit? Die Regeln machen die Musik.

Daraus folgt: Das ethische Potential eines Spiels liegt (auch) in dessen Regelwerk: „It is in the game as designed simulation system where the ethics of computer games can be partially tracked. The way games are designed, and how that design encourages players to make certain choices, is relevant […]“[4].

Das Spiel als Objekt

Wunderbar. Aber was heißt denn das jetzt genau – „Objekt“?
Ein Spiel als Objekt besteht aus zwei Komponenten: Dem system[5] und der world[6].
Ok. Und was ist der Unterschied?

Das system ist das einem Spiel inhärente System von Regeln, das einen Spieler zur Erreichung bestimmter Ziele innerhalb der Spielwelt motiviert. Die world bezeichnet die Spielwelt. Also das über das System gestülpte Zierdeckchen. Das Biotop quasi, die Story etc.

Und wo ist jetzt die Ethik?

Die Ethik zwischen system und world

Irgendwo dazwischen: „The Ethics of games as designed objects can be found in the relations between these two elements“[7].
Damit jetzt nicht schon jeder aussteigt – hier ein Beispiel:

Das Spiel XIII beschreibt den Spielercharakter als brutalen Killer. Das ist die world. Das system widerspricht aber dieser world, denn: Polizisten und Unschuldige können nicht getötet werden. Das Regelwerk zwingt den Spieler also zu eine bestimmten Verhalten, das in Konflikt steht mit der suggerierten world: „There is a game rule that creates the values we play by, in clear contradiction to the game fiction“[8].

Sicarts These ist also: Das ethische Element eines Spiels liegt nicht (nur) in seiner world, sondern in seinem system.
Warum?

Weil es das System ist, das uns durch seine Regeln zu bestimmten Verhaltensweisen motiviert oder sogar zwingt. Am Beispiel XIII: Hier ist der Spieler zu moralischem Verhalten schlicht durch das System gezwungen. Und das steht in krassem Widerspruch zur Spielwelt.

Das heißt jetzt aber nicht, dass die Spielwelt völlig irrelevant ist. Sie hat Einfluss darauf, wie das Spiel erlebt wird, weil sie die Repräsentation des Regelwerks sowohl als auch dessen Container ist. Die Spielwelt ist der direkteste Zugang, den der Spieler auf die Regeln hat.[9]

Ok. Also nochmal: Jedes Spiel ist ein Objekt, bestehend aus einem System und einer Spielwelt. Das System bestimmt die Regeln und in denen liegt das ethische Potential. Die Regeln wiederum erleben wir durch die Spielwelt.

Die Ethik zwischen system, world und Entwicklern (Puh)

Aber jetzt kommt der Clou: Spiele sind nicht einfach nur Objekte. Sie sind auch Erfahrungen. Genauer: Sie sind Objekte, die dazu designt sind, Erfahrungen zu schaffen. Und erst dadurch werden sie existent.[10]

Diese Erfahrungen sind durch die ergodische (ergodic) Eigenschaft von Spielen greprägt.
Was, bitte?
Also langsam.

Ergodisch: Das ist die Eigenschaft eines Systems, die Interaktion des Spielers nach bestimmten – dem Spieler zumeist bekannten – Regeln zu evaluieren und einen bestimmten Erfolgsstatus festzulegen, der vom Spieler angestrebt ist.[11] (Sehr) heruntergebrochen: Ergodisch ist die Eigenschaft, bestimmten Input mit bestimmtem Output zu versehen.[12] In Spielen wie Telltales The Walking Dead führt das etwa zu weit verzweigten Entscheidungsbäumen.[13]

So was wie hier..
heronbelford-2-1fig5

Die Struktur bestimmt, welche Erfahrungen wir innerhalb des Spiels machen können. Sie gibt außerdem vor, welches Verhalten wünschenswert ist und welches nicht, indem es belohnt oder bestraft. Das System motiviert uns dazu, uns auf bestimmte Art und Weise moralisch zu verhalten. Es oktroyiert uns also gewissermaßen seine ethischen Überzeugungen auf. Und sobald wir spielen, müssen wir mitspielen. Uns also diesen Regeln unterwerfen. Das Regelwerk eines Spiels ist also in höchstem Maße ethisch. Natürlich können wir auch wählen, uns nicht an die Regeln zu halten. Wir können Polizisten in XIII erschießen, in Limbo entscheiden, nicht über die mit Stacheln bewehrte Grube zu springen und in Witcher 3 uns pazifistisch weigern, das Schwert zu ziehen, wenn wir angegriffen werden. Nur wirft uns das Spiel dann schneller raus, als uns lieb ist. Game Over. Sobald wir uns also entscheiden zu spielen, müssen wir nach den Regeln spielen.

Also: Das System bestimmt die Regeln, nach denen wir uns in der Spielwelt bewegen. Es sind also die Regeln, in denen das ethische Moment liegt.

Damit stehen wir aber vor einem klassischen Scope-Problem: Wenn es die Regeln sind, die ein Spiel zu einem ethischen Objekt machen, dann sind alle Spiele ethisch. Aber ist Tetris wirklich ethisch? Nein. Tetris kann zwar etwa als Allegorie interpretiert und dadurch ethisch diskutiert werden. Diese ethische Dimension ist aber nicht im Spiel, d.h. in den Regeln oder der Spielwelt, angelegt. Wir können Tetris seelenruhig spielen, ohne es als Metapher für Etwas Ethisches zu verstehen.[14]

Nicht alle Spiele sind ethisch relevant. Ethisch relevant sind nur die Spiele, die den Spieler
(a) mit ethischen Entscheidungen konfrontieren
und/oder
(b) in denen die Regeln des Spiels selbst ethische Fragen aufwerfen.[15]

Dann ist doch alles klar, oder? Das ethische Moment liegt also ganz klar in den Regeln, also dem Spielobjekt. Heißt also, dass die ethische Verantwortung für ein Spiel bei den Machern des Spiels liegt. Weil die das Objekt ja machen.

Puh. Sind wir Spieler nochmal davongekommen.
Falsch.

Die Ethik zwischen system, world, Entwicklern und Spielern (Ernshaft?)

Wir dürfen nicht vergessen, dass es immer die Spieler sind, die diese Regeln interpretieren und unter Umständen erst schaffen (z.B. implizite Verhaltensregeln in einem MMO). Und dass es, wie wir oben festgestellt haben, erst einen Spieler braucht, damit das Spiel überhaupt existent wird.

Welche ethische Rolle haben also wir, die Spieler?

Ja, die Entwickler sind verantwortlich für das Regelsystem und für die Verhaltensweisen, die sie mit diesem zu triggern versuchen. Aber der Spieler und die Spiele-Communities sind schlussendlich verantwortlich für die Erfahrung(en), die in einem Spiel gemacht werden. Der Entwickler kann ethische Werte in ein Spiel einschreiben wie er will. Der Akt des Spielens ist davon nur dann beeinflusst, wenn diese Werte direkt die Spielerfahrung beeinflussen.[16]

Aber wird dürfen den Spieler-Faktor nicht vergessen! Eine Ethik der Computerspiele braucht beides: Das Spiel als ethisches Objekt und den Spieler als moralischen Agenten, der das Spiel erst in die Existenz bringt, indem er spielt.[17]

Der Prozess, der im Spielen vor sich geht, ist komplex: Das Spiel als Objekt wird vom Spieler aktualisiert und damit zur Erfahrung. Der Spieler selbst wird durch das Spielen wiederum zum Spielenden (player-subject). Diese verschiedenen ´Identitäten` sind es auch, die uns ethisch interessante Erfahrungen in Spielen machen lassen.

In Super Columbine Massacre RPG spielen wir das Columbine Massaker in den Figuren von Eric Harris und Dylan Klebold nach. Die Regeln des Spiels entsprechen gängigen RPGs.

Kein Problem. Kennen wir uns aus. Diese Kenntnis ist unserer kulturellen Erfahrung in Spielen geschuldet. Gegner überwinden bringt XP und so weiter.

Problem: Die darübergestülpte Spielwelt. Der Amoklauf ist Teil unserer kulturellen Erfahrung außerhalb des Spiels und unserer dortigen moralischen Überzeugungen.
Unser dem Spiel externes Ich steht also unserem Player-Ich gegenüber.
Was bedeutet das aber jetzt für uns als Spieler?
Wenn wir als moralische Agenten das Spiel erst in die Existenz bringen, dann bedeutet das, dass der Akt des Spielens ein moralischer Akt ist.
(Oh Gott)
D.h. Der Akt des Spielens ist ein Akt, in dem wir uns richtig oder falsch verhalten können. (Weil das Moral so macht, nach richtig und falsch zu fragen).
Wie sollen wir uns dann aber moralisch richtig verhalten?
Hier packt Sicart Artistoteles Tugendethik aus.

Die Ethik zwischen system, world, Entwicklern und tugendhaften Spielern (Jetzt aber!)

Die Phronesis bei Aristoteles bezeichnet die praktische Weisheit, d.h. das Wissen um das ethisch Gute und das Angemessene. Diese praktische Weisheit üben wir auch, wenn wir spielen. Hier bezieht sich die Phronesis auf die Game Play-Entscheidungen, die ein Spieler trifft, die sich wiederum an bestimmten Tugenden orientieren, um ein aus aristotelisch-ethischer Sicht ein guter Spieler zu sein.

Whaaat?

Ein Beispiel: Wenn wir langjährige Battlefield– Spieler sind und in einen uns bisher unbekannten Shooter geworfen werden, wissen wir, wie wir uns im Spiel angemessen verhalten, um möglichst erfolgreich zu sein. Wenn wir jetzt aber mit einem Spiel konfrontiert werden, wo wir uns unsicher sind, wie wir uns verhalten sollen, dann – vorausgesetzt wir sind tugendhafte Spieler – aktiviert sich unsere praktische moralische Weisheit und wir orientieren uns an unseren Erfahrungen als Mitglied einer bestimmten Kultur, Gesellschaft und auch Spielercommunity. Wir versuchen unseren eigenen Spielspaß zu maximieren, ohne den Anderer einzuschränken.

Sicart nennt das: ludic practical wisdom.[18]

Die in der Spielerfahrung vorherrschenden Tugenden sind z.B. Sportmanship, balanced aggression, explorative curiosity, sense of achievement.[19]

Ein tugendhafter Spieler spielt gemäß diesen Tugenden und formt damit seine Phronesis. Er ist ein guter Spieler, weil er tugendhaft spielt.

Und genau hier liegt das ethische Potential von Spielen wie  Super Columbine Massacre RPG. Indem wir das Spiel spielen, schalten wir unsere praktische Weisheit ein. Wir wissen, wie wir mit dem Spiel als player-subjekt interagieren, was wir tun können in der Spielwelt und – und das ist jetzt die Moral von der Geschicht´! – wie das die moralische Integrität des Player-Subjekts einerseits und des Ich-außerhalb-des-Spiels beeinflusst. Indem uns das Spiel zwingt, als Player-Subjekt den Amoklauf zu begehen, zwingt es uns als Ich-außerhalb-des-Spiels, über das Spiel und unsere Handlungen darin nachzudenken. Als Spieler-Ich wollen wir gewinnen. Dafür müssen wir töten. Als moralisches Subjekt außerhalb des Spielers stehen wir damit in Konflikt. Durch diese Diskrepanz wird kritische Reflexion über unsere Handlungen im Spiel erst möglich.

Und ta-daa: Das Spiel ist ethisch!

 
Noch Fragen?
 


 Abb. :Adapted from „Here’s a chart of every choice in The Walking Dead: Season 1 (image)“ by E. Killham, March 31, 2013, VentureBeat.com. Copyright 2013 by GamesBeat.
[1] Sicart, Miguel: The Ethics of Computer Games. Cambridge:  MIT 2011,  S. 33.
[2] vgl. ebda. S. 46.
[3] vgl. ebda. S. 16.
[4] ebda. S. 17.
[5] ebda. S. 22.
[6] ebda. S. 22.
[7] ebda. S. 22.
[8] ebda. S. 22.
[9] vgl. ebda. S. 35.
[10] vgl. ebda. S. 30.
[11] vgl. ebda. S. 30.
[12] Zu der Problematik, dass Spiele eigentlich nie eine durchgängige ergodische Erfahrung sind, sondern unterbrochen werden von Cutscenes, Ladescreens etc. und die cineastische Inszenierung gerade in AAA-Titeln zunehmend in den Vordergrund rückt, hier ein gut zu lesender Gegenentwurf zur ergodischen These von James Newman: http://www.gamestudies.org/0102/newman/.
[13] Anm.: Wobei die Bandbreite moralische Entscheidungsmöglichkeiten in Spielen wie The Walking Dead ein Spiel nicht grundlegend ethisch interessant macht. Vgl. dazu ebda. S. 45.
[14] vgl. ebda. S. 51.
[15] vgl. ebda. S. 49.
[16] vgl. ebda. S. 41.
[17] vgl. ebda. S. 63.
[18] ebda. S. 100.
[19] ebda. S. 101.