Der Weg nach Panama

17 Oktober, 2018

Wann haben wir eigentlich das Abenteuer verlernt? Oder besser noch: Wann haben wir eigentlich das abenteuern verlernt? In Zeiten des global village ist die Verlockung groß – da im Vergleich zu früheren Zeiten relativ simpel – im wahrsten Sinne des Goetheschen Wortes „in die Ferne zu schweifen“. Die letzten Abenteuer, so zumindest flüstert es das unstete Weltenwandernde in uns, liegen fernab der eigenen Haustür. Und so stecken wir unsere Bikes in Travelbags jeder Form und Größe und buchen Bikeurlaube an den Rändern der Welt: Madeira, Finale Ligure, ja gar so weite Sehnsuchtsorte wie Nepal oder Kamtschatka stehen auf der Trendliste ganz oben. Wir reichen unseren Urlaubsantrag ein und planen so das Abenteuer fein säuberlich in unseren Jahreskalender ein. Wie das Licht am Ende des Alltagstunnels scheint er uns dann, dieser geplante Ausbruch aus den Routinen unseres Seins.
Aber braucht es denn eigentlich die Distanz für das Abenteuer. Anders gefragt: Ist das Abenteuer unweigerlich geknüpft an die Voraussetzung der örtlichen Entfernung?
Erinnern wir uns: Als wir klein waren, war die Welt groß. Das Abenteuer wartete an jeder Ecke. In den mit allerlei Abfall (damals: Piratenschätzen) gespickten Untiefen der nachbarschaftlichen städtischen Grünanlage. Auf dem knorrigen alten Apfelbaum (damals: der Turm zum Himmel) der Großmutter.  An den Rändern des Stadtparkteiches (damals: die Küsten noch unerschlossener Weltmeere). Die Welt war groß, weil sie überall war und überall mit Abenteuern, Expeditionen, Wagnissen auf uns zu warten schien. Je älter wir wurden, desto mehr verloren die Dinge an gefühltem abenteuerlichem Umfang. Kurz: Der Teich war nur noch ein Teich. Der Baum nur noch ein Baum. Und die verschmutzte Grünanlage ein Schandfleck, in dem keine Abenteuer mehr warteten außer vielleicht das Abenteuer einer spontanen Blutvergiftung, weil man sich den Sandalenzeh des sommers an einer achtlos dahingeworfenen zerknautschten Coladose aufschnitt.
Auf der Suche nach dem verlorenen Abenteuer mussten wir weiter gehen. Wir begonnen, fremde Länder zu bereisen ohne zu begreifen, dass die Sehnsucht, mit der wir auf unserer all inclusive gebuchten Biketour durch das ägyptische Hinterland den kurzen Moment des Kontakts mit einem oder einem anderen Einheimischen ersehnten, um dann sagen zu können, wir hätten dieses fremde Land, seine Kultur, „erlebt“ nichts anderes als Verzweiflung ist. Die Verzweiflung nämlich, jenes Gefühl zu rekonstruieren, das uns auf dem großmütterlichen Apfelbaum damals dem Himmel so nah brachte.
Das bedeutet natürlich nicht, dass keines unserer „erwachsenen“ Abenteuer hinfällig ist. Im Gegenteil: In die Fremde zu gehen ist immer heilsam. Weil es uns in letzter Instanz selbst in Frage stellt. Weil wir uns mit anderen Menschen, anderen Kulturen, anderen Denkweisen und anderen Geschichten auseinandersetzen müssen und damit mit uns selbst und unserem eigenen Selbstverständnis.
Aber ist es Bedingung für Abenteuer?
Nein.
Brauchen wir die Trails ferner Lande, um auf unserem Bike Abenteuer zu erleben?
Nein.
Das Abenteuer ist nicht verortbar. Im Klartext: Das Abenteuer kennt keinen Ort. Oder besser: Es ist ihm völlig gleich. Wenn wir jedes Mal einen neuen Trail in einem neuen Land, am besten möglichst weit von zuhause, fahren müssten, um das zu erleben, was wir gemeinhin als Abenteuer verstehen, dann wären wir nichts weiter als Getriebene, Heimatlose wenn man so will, die der Sehnsucht nach dem weißen Fleck auf der Karte, der Erstbefahrung, der Erstbesteigung nachjagen in einer Welt, in der es ein erstes Mal gar nicht mehr gibt.
Zum Glück ist das aber gar nicht nötig. Das Abenteuer findet nämlich nicht da draußen statt, sondern in unseren Köpfen. Besser: In unseren Herzen.
Die Abenteuerlosigkeit unseres Alltags ist ein Mangel unserer Fantasie nicht unserer Freiheit.
Wir können heutzutage überall hin. Aber wenn wir das Abenteuer nicht in unseren Herzen tragen, werden wir es auch am hinterletzten Spitzkehren-Trail am Hindukusch vergebens suchen.
Umgekehrt bedeutet das etwas sehr tröstliches: Wir sind zwar älter geworden und dem Apfelbaum entwachsen. Aber wir können zurück. Oder eher: Wir können ihn wiederfinden.
Der britische Abenteurer und Autor Alastair Humphreys hat dafür sogar einen Begriff geprägt: Das Mikro-Abenteuer. Grundlage der Idee ist die Annahme, dass das Abenteuer überall erlebbar ist, ausdrücklich und vor allem auch „in der eigenen näheren Umgebung, auch wenn man wenig Zeit hat, etwa wenn man im nahe gelegenen Wald für eine Nacht ein Zelt aufschlägt, die eigene Stadt bei Mondlicht erkundet oder eine Pyjama-Party im eigenen Hinterhof feiert“ (The New York Times). Das Abenteuer ist eben ortsunabhängig. Es beginnt in den Köpfen und den Herzen.
Weit weniger kulturwissenschaftlich aufgeladen hat das Konzept  zuvor schon ein ganz anderer begriffen, den die meisten von uns kennen werden: Janosch in seiner Kindergeschichte „Oh, wie schön ist Panama“. Als der kleine Bär eines Tages eine leere Holzkiste aus dem Fluß fischt, auf der „Panama“ steht und die nach Bananen und fernen Ländern und Versprechen nach Abenteuern riecht, beschließen er und der kleine Tiger (samt seiner Tigerente), sich auf den Weg in das nun als solches auserkorene Land ihrer Träume zu machen. In diesem wäre sicher alles größer, schöner und abenteuerlicher als zuhause. Am Ende (spoiler alert für alle, die die Geschichte nicht kennen) landen sie aber wieder da, wo sie losgegangen sind und glauben sich im Land ihrer Träume angekommen. Der Ort hat sich nicht geändert. Wohl aber ihre Perspektive auf diesen. „Oh, wie schön ist Panama“ ist eine Allegorie auf das Abenteuer, das nur in unseren Herzen und unseren Köpfen stattfindet.
Deshalb: Wir brauchen keine Trails am Ende der Welt, um zurück zum Apfelbaum zu finden.
Also, nehmen wir unsere Bikes, radeln in das Waldstück um die Ecke und gehen Abenteuer erleben!
Oder, um es mit Goethe zu sagen:
„Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.“


Bildquelle: http://jennyiberlin.blogspot.com