DayZ: "Und dann gab´s die verfaulte Banane". Chroniken eines Ex-Mörders. Ein Gespräch zwischen Elektro und Drozhino
30 August, 2016
Ich bin sicher, dass er schießen wird. Immerhin habe ich das Gewehr in der Hand – wenn auch keine Munition. Gesehen habe ich ihn erst in letzter Sekunde. Und er mich. Nun stehen wir also da, beide etwas unschlüssig. Beide mit gezogener Waffe. Ich bluffe.
Er auch? Er läuft ein wenig rechts, ein wenig links, unruhige Finger auf Tastatur. Er will ein möglichst schlechtes Ziel abgegeben – für den Fall. Der Motorradhelm auf seinem Kopf ist pristine, er glänzt beinahe. Mit zwei Freunden habe ich mich in Drozhino verabredet. Aber ich bin eben erst gespawnt in Elektro. Ein weiter Weg. Ist er hier schon zu Ende?
Vor lauter Aufregung komme ich mit dem Finger kaum an die Caps Lock-Taste: In Game Chat.
On.
„Hello?“ höre ich mich, durchaus etwas piepsig, sagen. Der Mann vor mir mit dem Motorradhelm und gezogener Pistole hört auf, hin und her zu laufen.
„You a girl?“ Der Akzent ist eindeutig. Ich frage zurück: „Bist du deutsch?“. Es dauert einen Moment – er steckt die Waffe weg. Dann kommt der Daumen nach oben: F7 – Thumbs up. Ich tue es ihm nach und stecke mein (ohnehin ungeladenes) Gewehr fort.
Den Daumen zeige ich ihm nicht. Man muss ja seine Distanz bewahren in diesem Spiel. Besser vorsichtig sein, nicht zu enthusiastisch auf Fremde reagieren. Man hört von zu vielen Geschichten, in denen arglose Wanderer auf die Menschlichkeit, die uns doch vermeintlich alle solidarisch verbinden sollte, vertraut haben und dann in Hinterhalte gelockt wurden. Erschossen, erstochen, geknebelt, verdurstet, mit faulen Früchten gefüttert und verendet.
Die Zombies in Chernarus sind das geringste Problem. Viel gefährlicher sind die Spieler.
Ich bin also vorsichtig. „Ok dann – viel Spass noch“ murmle ich noch höflich. Höflichkeit ist eine Tugend; auch weil ich noch immer keine Munition habe und niemanden reizen sollte, der eine Waffe hat, die unter Umständen geladen ist. Dann laufe ich rückwärts Richtung Nordwesten. Immer den Mann mit Motorradhelm im Blick. Hinter einer alten Scheune verschwindet er endlich aus meinem Blickfeld. Puh. Ich drehe mich um und laufe los. Die Wiese dahinter liegt auf einer Hochebene, steigt steil nach oben, um danach sanft wieder abzufallen. Das Land ist weit vor mir. Die Sonne steht tief. Ich laufe über die Wiese. Immer wieder sehe ich um mich. Nichts und niemand. Fast bin ich unten am schützenden Waldrand. Fast.
Da sehe ich etwas auf meiner Höhe am anderen Ende der Wiese. Ein Zombie? Nein, es schlägt zu viele Haken, ist zu unruhig. Ich laufe ein Stück näher. Kurz verschwindet das Etwas hinter einem Baum, der einsam auf der Wiese steht. In mir meldet sich leise die Angst. Unsicher sehe ich um mich. Ich ziehe die Firefighter-Axt.
Als ich mich wieder umdrehe, steht er vor mir.
Der Mann mit dem Motorradhelm.
Er kann gerade noch die Arme hochreißen. Ich halte die Axt über dem Kopf, zum Schlag bereit. Mein Finger drückt viel zu fest auf den Mausklick. Wenn ich loslasse, schlage ich zu.
„Warte“ sagt er. Ich zögere. Dann drehe ich mich zur Seite und lasse erst dann los. Die Axt fährt ins Leere.
Wieder stehen wir einander gegenüber. Was will er von mir, denke ich. Warum ist er mir gefolgt? Ich stecke die Axt nicht weg. „Folgst du mir?“ frage ich. „Ja“ meint er. Zumindest ehrlich. „Warum?“. Einen Moment Stille, in dem er seltsam vor und zurück läuft, immer nur ein paar Schritte. Überlegt er so? „Niemand sonst da“ antwortet er schließlich „Is´ langweilig“. Er hat so einen Ghetto-Slang in seiner Stimme, dass sich alles anhört, als würde er es nicht sagen, sondern rappen. Ich überlege noch, ob Langeweile ein akzeptabler Grund ist, laufe dann schließlich einfach weiter. So wird man doch am ehesten Menschen los. Indem man sie ignoriert.
Nur ihn nicht.
Er folgt mir auf dem Fuß.
„Wohin willste denn?“ fragt er.
Nicht gut.
Klar, das ist zunächst eine unschuldige Frage. Nur: So etwas wie unschuldige Fragen gibt es in Chernarus nicht. Was ist, wenn ich ihm antworte? Vor meinem inneren Auge spielen sich Schreckensszenarien ab. Männer mit Motorradhelmen umringen meine Freunde in Drozhino. Und ich – der Verräter. Der, der die Schuld zu tragen hat. Und haben sie nicht erst eine MOSIN gefunden? Wie könnte ich verantworten, dass sie die so rasch wieder verlieren?
„So Nordwest“ antworte ich vage. Ich habe keine Lust, in die falsche Richtung zu laufen, nur um ihn auf eine falsche Fährte zu locken. Es ist schon spät und meine Freunde warten. Und da ist noch etwas. In mir fragt etwas sehr leise: Und wenn er nichts im Schilde führt? Keine düstere Agenda hat? Wenn ihm einfach nur langweilig alleine ist?
Als hätte er meine Gedanken gehört, sagt er plötzlich: „Isch kenn´ Chernarus. Wohin genau willste denn? Isch bring´ dich hin“.
Und dann sagt er etwas, was auf einer Menge Ebenen – und nicht nur in Chernarus – Sinn macht: „Zu zweit is´ besser als allein“.
Manchmal, denke ich, muss man im Leben einfach etwas wagen. „Ok“ gebe ich zurück. „Ich treffe Freunde in Dozhino“. Wie viele Freunde das sind, lasse ich mal offen. Sicher ist sicher.
Wir haben den Waldrand erreicht. „Kein Problem“ meint er, „Isch kenn den Weg. Folge mir“.
Und ich folge ihm.
Ich muss verrückt sein.
Mein neuer Gefährte stellt sich bald als sehr gesprächig heraus. Er erzählt von Chernarus, vom Looten und davon, was sich alles geändert hat, seit er das erste Mal gespielt hat. Und er spielt seit Anfang an. Und oft. Er läuft ein Stück vor mir. Ich ihm hinterher.
Da kommt ein Zombie wie aus dem Nirgendwo. Ich sehe ihn zu spät. Er greift mich an. Der Mann mit dem Motorradhelm reagiert sofort. Er zieht seine Axt, holt aus. Der Zombie fällt. „Check´ auf Blutung“ meint er. Und tatsächlich. Der Zombie hat mich noch erwischt. Der Mann mit dem Motorradhelm bückt sich. Vor mir auf dem Boden erscheinen Bandagen.
Ich schäme mich.
Ich schäme mich, ihn für einen postapokalyptischen Mörder gehalten zu haben.
Eine Zeitlang laufen wir schweigend.
Irgendwann fragt er, ob ich denn öfter spiele. Warum, frage ich. Er druckst ein wenig herum. Er würde halt gerne mit Leuten spielen, meint er dann. Hat er denn keine Leute, frage ich. Doch, klar, gibt er zurück. Aber is´ halt schwierig. Macht ihm nicht mehr so viel Spaß. Ich frage weiter: Warum?
Was dann kommt, habe ich nicht erwartet.
Ja, der Kannibalismus war ihm dann doch zu hart.
Kannibalismus? Ich muss schlucken.
Fesseln und Beklauen – das ist eine Sache, meint er.
Er fällt ein Stück zurück. Wir laufen jetzt gleichauf.
Und lustig is´ es halt schon – die verfaulten Früchte zu verfüttern.
Ich laufe unmerklich ein Stück von ihm weg.
„Schon lustig. Wir halt so zu fünft, sechst. Also der andere keine Chance. Erstmal Klamotten ausgezogen. Dann gefesselt“.
Meine Finger nähern sich Nummerntaste 1: Die Axt.
Habe ich einen Fehler gemacht?
Er lacht ein wenig. Über den Chat hört sich das an wie Husten:
„Und dann gab´s die verfaulte Banane“.
Ich schweige. Der Finger bleibt über Taste 1. Ich warte ab. Wir laufen jetzt über ein Plateau. Da steht eine Scheune. Ich will ihr entgegen laufen, aber er meint nur, lohnt sich nicht, hier ist alles gelootet. Verdammt, so kann ich nicht entkommen.
Ich stecke fest: Mit einem viel zu gesprächigen Ex-Mörder, irgendwo im Nirgendwo der Postapokalypse.
Über Teamspeak informiere ich meine beiden Freunde, dass ich auf dem Weg zu ihnen bin – mit moralisch fragwürdigem Anhang. Und die Diskussion entbrennt. Sollen sie uns auflauern und ihn dann umbringen? Seine Ausrüstung scheint ja nicht schlecht zu sein. Und verdient hätte er es doch ohnehin. Mit der Vergangenheit. Ich überlege. Hinter dem Teamspeak, im In Game Chat, erzählt der Mann mit dem Motorradhelm fröhlich weiter Geschichten aus dem Fegefeuer. Aber er hat mir geholfen. Wie kann ich ihn da umbringen? Und etwas wiegt vielleicht noch schwerer: Ich laufe mit ihm seit beinahe einer halben Stunde durch Chernarus. Seit beinahe einer halben Stunde spricht er mit mir. Er spricht mit mir. Er ist nicht einfach nur ein Haufen Pixel mit einem Motorradhelm darauf. Er hat eine Stimme.
Ich entscheide mich gegen die Exekution. Wir beschließen, ihm zunächst aufzulauern und abzuwarten, was passiert.
Währenddessen erzählt der Mann mit dem Motorradhelm weiter von verfaulten Früchten und den Freuden virtueller Folter. Solange alles – wie er meint – in Maßen ist.
Als seine Leute dann mit dem Menschenfleisch ankamen, da war für ihn das Maß voll.
Kannibalismus – sowas macht er nicht. Hat er nie gemacht. Er nicht. Und auf einmal hört er sich an wie ein erzkatholischer Dorfpriester, der gerade zwei Jungs beim Händchenhalten erwischt hat. Ich denke, schon spannend, wo die Grenzen der Moral für den Einzelnen verlaufen. Und dann auch noch so deutlich. Folter? Ist doch lustig. Kannibalismus? Empörend! Seit er sich gegen den Verzehr von Menschenfleisch ausgesprochen hat, ist er auf der Flucht. Vor seinen eigenen Leuten. Und schrecklich allein. Was man deutlich heraushört: In der Gruppe hat er sich wohlgefühlt. Er hat sich stark gefühlt. Das ist jetzt nun nichts Neues. Warum sollten Gruppendynamiken virtuell weniger greifen als in der analogen Welt? Dass einer wie er dieses wohlige Gefühl des Kollektivmördertums freiwillig aufgibt, ist schon erstaunlich.
Und wie wir da so laufen, wird mir klar: Der Mann mit dem Motorradhelm ist eigentlich gerade auf der Couch. Ich meine, die Freud´sche Couch. Ich meine, die Couch, die vermeintlich bei jedem Psychotherapeuten von hier bis Kamtchatka in der Praxis steht. Und ich bin der Psychotherapeut. Nun, wahrscheinlich hätte jeder, der ihm über den Weg gelaufen wäre und in nicht erschossen hätte, diese Rolle bekommen. Er hat das Bedürfnis, zu erzählen. Dieser Ex-Mörder will resozialisiert werden. Er sucht nach Menschen, mit denen er wieder nicht-alleine sein kann. Und er weiß, dass er sie nicht findet, wenn er jeden auf seinem Weg mit verfaulten Früchten füttert. Ist das schon eine Katharsis?
Wir nähern uns Drozhino.
Meine Freunde sind unruhig. Sie glauben, jemanden gesehen zu haben, nicht weit vom Dorf entfernt. Der Mann mit dem Motorradhelm schweigt jetzt auch. Hat er doch irgendjemandem verraten, wo wir sind? Es liegt etwas in der Luft. Oder ist es nur das Spiel, das einen paranoid macht? Hier gibt es keine Läuterung, nur Show. Meint mein Freund über TS. Ich sehe mich um. Der Mann mit dem Motorradhelm ist etwas zurückgefallen.
Wir sehen das Ortsschild schon.
„Wo sind jetzt deine Leute?“ fragt er. Seine Stimme hört sich nicht gut an. Er scheint nervös. Meine Freunde bleiben in Deckung. Sie sehen uns. Da war noch jemand, sagen meine Freunde. Mindestens einer. Bleibt unten, sage ich. Ich kann nicht einschätzen, was wir tun sollen. Das ist eine Falle, sagen sie. „Ist das ´ne Falle, oder was?“ fragt der Mann mit dem Motorradhelm. Ich laufe weiter. Was soll ich tun? Gleich da vorn hinter dem roten Haus sitzen meine Freunde. Der mit der MOSIN sagt zu mir: „Ich hab´ ihn. Soll ich?“. Stille im TS.
Soll er?
Nochmal fragt der Mann mit dem Motorradhelm: „´Ne Falle oder was?“
Dann zieht er seine Pistole.
„Ok“ sage ich im TS zu meinem Freund mit der MOSIN. Es ist ein Schuss zu hören.
Viel zu laut scheint er hier in diesem kleinen Dorf zwischen Birken.
Der Mann mit dem Motorradhelm ist sofort tot.
Der In Game Chat ist deaktiviert. Ich bin froh darüber. Ich nehme seine Pistole, seine Ausrüstung. Nur seinen Motorradhelm, den rühre ich nicht an. Dann durchsuchen wir das Dorf und die Umgebung. Im angrenzenden Wald finden wir einen Zombie. Niemanden sonst. Der Mann mit dem Motorradhelm hat wohl tatsächlich niemandem unsere Position verraten. Außer ihm war da niemand. Er war allein.
Bevor wir Drozhino in Richtung Airfield im Norden verlassen, frage ich mich noch, was das jetzt wohl mit seiner Katharsis gemacht hat.
Tage danach geht das Gerücht von einem, der sich einen Spaß daraus macht, Spielern aufzulauern, nur um sie zu zerlegen, ihr Fleisch zu braten und anschließend als grausige Brotkrumen in Dörfern auszulegen um neue Opfer anzulocken.
Es heißt, er trägt einen Motorradhelm.