RIDE YOUR F**** BIKE! Von Nürnberg zum Nordkap in 30 Tagen. EPILOG: Was vom Tage übrig blieb
11 Juni, 2018
Das Rad ist im Keller verstaut, die Ausrüstung liegt nicht mehr verstreut und ungewaschen in der Wohnung verteilt. Die Überreste meines Abenteuers RIDE YOUR F**** BIKE! Von Nürnberg zum Nordkap in 30 Tagen sind soweit aufgeräumt, die häusliche Ordnung hat sie wieder. Und mich der Alltag. Eben noch die Einsamkeit, nun zurück in der Geschäftigkeit der Stadt. Im Trott des Tagein-Tagaus. Viele Fragen wurden und werden mir gestellt: Wie war es? Was waren die besten Momente, was die schlechtesten? Wie stand es um deine Ausrüstung – Hast du etwas vermisst, was war obsolet? Wie ist es, wieder zurück zu sein? Auf viele Fragen versuche ich gerade erst selbst, die Antwort zu finden. Auf andere Fragen gibt es vielleicht gar keine. Und wieder andere – etwa die nach der Ausrüstung – sind leicht zu beantworten (Nein, lautet die Antwort, ich habe nichts vermisst).
Aber die Frage, die mich am meisten umtreibt, nun, nachdem ich seit zwölf Tagen nicht mehr auf der Straße gen Norden radle, ist die: Was bleibt nun eigentlich übrig? Was ist es, das bleibt von dieser Reise, dieser Erfahrung? Ich bezweifle, dass sich mir die Antwort auf diese Frage nach zwölf Tagen bereits erschließt. Wirkliche Veränderungen geschehen auf schleichende, fast heimliche Art und Weise. Da hat Inception durchaus Recht. Jede Veränderung beginnt mit dem Saatkorn einer Idee, die ganz tief innen Wurzeln schlägt. Als ich ein Kind war, konnte ich in der Nacht vor meinem Geburtstag nie schlafen, weil ich der Überzeugung war, um Punkt Mitternacht und eine Minute, wenn ich mein neues Lebensjahr erreichte, würde sich alles ändern. Würde ich mich ändern. Wie eine Raupe, die mit einem Schlag zum Schmetterling wird. Ein ganz neues Lebensgefühl träte ein und ich wäre von einem Moment auf den anderen weise und gänzlich anders als davor. Ich war jedes Mal enttäuscht, wenn nichts geschah. Erst viel später begriff ich, dass es die Brüche, Beschwernisse, Hürden, Niederlagen und Triumphe dazwischen sind, die uns ändern. Und auch diese nicht sofort. Sondern langsam, schleichend, nach und nach. Wenn wir Zeit hatten, das Erlebte zu reflektieren. Wenn bislang fremde Erfahrungen die Gelegenheit hatten, sich in unserem Kopf festzusetzen und neue Blickwinkel zu eröffnen.
Zwölf Tage sind also eigentlich zu kurz für ein Resümee, zu früh, um zu fragen, was denn übrig bleibt von all dem.
Zweierlei weiß ich aber zweifelsfrei:
Zum einen der Appell:
Wer auch immer nur ansatzweise die Möglichkeit hat, eine Radreise zum Nordkap zu unternehmen – an den appelliere ich inständig, dies zu tun! Auch die Strecke durch Deutschland (in meinem Fall durch den Thüringer Wald und den Südharz bis Rostock) lohnt – vor allem im Frühjahr, wenn die Rapsfelder blühen und man oben auf den Hügelkuppen zwischen den riesigen Windrädern ins weite Land sieht und den Sommer schon riechen kann.
Der Weg durch Schweden ist ein einziges Lehrstück. Über zwei Wochen Wald bis zur finnischen Ebene. Erreicht man eine Anhöhe und blickt ins Land ist da nur Wald. Wald in allen Richtungen. Bis zum Horizont und kein Ende in Sicht. Manchmal hat man das Gefühl, kaum mehr atmen zu können, weil dieser Wald kein Ende nimmt, außer wenn einer der schwarzblauen Seen eine Lichtung aus Wasser in das Grünbraun der Tannen schlägt. Manchmal wiederum hat man das Gefühl, noch nie so gut geatmet zu haben. Der Weg durch die schwedischen Wälder schwankt zwischen Klaustrophobie und absoluter Freiheit.
Jenseits des Polarkreises, der finnischen und schließlich der norwegischen Grenze ist das Land karg, die Birken hager und schließlich ganz fort und die Ebenen – zumindest bis in den Juni hinein – voll mit altem Schnee und Eis.
Hier weht der Wind immer und stürmisch. Hier wird der Weg so hart und einsam wie das Land selbst.
Spätestens hier beginnt die Herausforderung. Wind, Höhenmeter, Kälte und Witterung stellen sich einem in den Weg, als wollten sie den Willen des Reisenden prüfen. Unwillkürlich musste ich an Michael Endes Die Unendliche Geschichte denken und an die drei Tore, die durchquert werden müssen auf dem Weg zur Rettung der Welt Phantásiens:
Auf Atréjus Frage: »Und was hat es mit diesem dritten Tor auf sich?«, antwortete Engywuck:
»Hier wird die Sache überhaupt erst richtig schwierig! Das Ohne Schlüssel Tor ist nämlich zu. Einfach zu. Punktum! Da gibt’s keine Klinke und keinen Knauf und kein Schlüsselloch, nichts! Nach meiner Theorie besteht der einzige Türflügel, der fugenlos schließt, aus phantasischem Selen. Du weißt vielleicht, dass es nichts gibt, womit man phantasisches Selen zerstören, verbiegen oder auflösen kann. Ist absolut unzerstörbar.«
»Also kann man überhaupt nicht durch dieses Tor?«
»Langsam, langsam, mein Junge! Es sind ja Leute hineingekommen und haben mit der Uyulála gesprochen, nicht wahr? Also kann man die Tür öffnen.«
»Aber wie?«
»Hör zu: Phantasisches Selen reagiert nämlich auf unseren Willen. Gerade unser Wille ist es, der es so unnachgiebig macht. Je mehr einer hineinwill, desto fester schließt die Tür. Aber wenn es einer fertig bringt, jede Absicht zu vergessen und gar nichts zu wollen – vor dem öffnet sich die Tür ganz von selbst.«
Atréju senkte den Blick und sagte leise: »Wenn das wahr ist – wie soll es mir dann möglich sein, hindurchzukommen? Wie könnte ich es nicht wollen?«
Es liegt eine Menge Weisheit darin, dass die höchste Stufe des Willens darin besteht, vom Willen selbst abzulassen. Wer zu sehr will, der verkrampft auch schnell. Der setzt sich so sehr selbst unter Druck, dass er handlungsunfähig wird. Natürlich, ich muss es wollen, um es schaffen zu können. Aber ich muss es wollen und trotzdem frei in meinem Wollen bleiben.
Wer schließlich ankommt, nach 3000 und x Kilometern, oben an der letzten Kuppe, hinter der nur noch der Arktische Ozean liegt, der weiß ganz sicher, dass es sich gelohnt hat.
Es ist nicht nur die Landschaft, diese von Horizont zu Horizont gefasste geballte Einsamkeit, die uns viel über uns selbst erzählt. Es ist nicht nur die Straße, die endlose E45, die sich schnurgerade durchs Land zieht und unsere Nerven auf die Probe stellt. Es ist nicht nur der Wind, der uns von der Straße fegt und uns die Tränen in die Augen treibt. Es ist nicht nur das Funkeln der unzähligen Seen, auf manchen noch Eisschollen, die wir passieren. Es ist nicht nur die plötzliche Wertschätzung der noch heruntergekommensten kleinen Hütte, die Wärme spendet, der geschmacklosesten Instant-Nudeln, die den Hunger stillen. Es ist nicht nur die Erinnerung daran, was eigentlich relevant ist. Und was nicht. Es ist all das und jenes Gefühl, nur diese eine Aufgabe zu haben – immer weiter in eine Richtung zu fahren, komme, was da wolle, die etwas in uns ändern wird. Nicht heute, nicht nach zwölf Tagen. Nicht von einem Moment auf den anderen, sondern langsam, schleichend, unmerklich. Bis wir feststellen, dass wir unruhig werden. Wieder unruhig. Dass wir uns fragen, wie es wohl hinter dem nächsten Horizont aussieht. Und hinter dem dahinter.
Und genau hier die Warnung: Wer einmal losgefahren ist, der kommt nicht mehr zurück. Oder besser: Er kommt immer wieder zurück, aber er hinterlässt Spuren, Fragmente von sich selbst gewissermaßen, auf dem Weg, den er gegangen ist.
Die Welt ist voller Stücke von Herzen Reisender, die sie dort zurückgelassen haben.
Und die nächste Ortsausfahrt ist nur eine Frage der Zeit. Oder, wie Tolkien es treffend beschrieben hat: „Es ist eine gefährliche Sache, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich betragen.“ Wir streichen einfach mal die Füße und ersetzen sie durch die Laufräder unserer Wahl.