Anna´s Quest: Das Erwachsenwerden ist eines der Schwersten

2 September, 2016

Anna

Geschichten wie aus dem Märchenbuch kennen wir von Daedalic Entertainment nur zu gut. Mit Edna bricht aus (2008), The Whispered World (2009) und Deponia (2012) hat das Hamburger Entwicklerstudio gezeigt, dass das Adventure-Genre alles andere als tot ist. Diesmal aber treten wir direkt ein in die Grimmsche Märchenwelt. Anna´s Quest ist das Märchen von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen. Es ist die klassische Erzählung des unschuldigen Mädchens, die mit Witz und Verstand ein Unglück abwenden muss in einer Welt, die ihr feindselig gegenübersteht. Vor allem aber ist es eine Geschichte über die Beschwerlichkeit des Erwachsenwerdens. Hinter Idee und Design des Spiels steckt der australische Designer Dane Krams, der Anna´s Quest als Abschlussprojekt seines Studiums designte und dann gemeinsam mit Daedalic Entertainment umsetzte. In bester Adventure-Manier point&klicken wir uns in sechs Kapiteln durch eine hübsch gezeichnete Märchenwelt, in der Magie – natürlich – eine zentrale Rolle spielt. Wer aber meint, die Story wäre ebenso süß wie der Grafikstil, hat weit gefehlt. Je tiefer wir in Annas Geschichte eintauchen, desto vielschichtiger wird sie. Anna´s Quest berührt Themen, die so gänzlich im Gegensatz zur süßlichen Inszenierung des Spiels stehen: Wir stoßen auf verkorkste Kindheiten, Fragen von Schuld und Sühne und am Ende begegnen wir sogar dem Teufel selbst. Aber von Anfang an:

Es war einmal im dunklen Wald

Die sonore Erzählerstimme berichtet uns in einem in aquarellfarbenen Tönen gehaltenen Intro, wie Anna mit ihrem Großvater abgeschieden im großen, dunklen Wald wohnt. Seit sie denken kann, erzählt der Großvater Anna, dass die Welt voller übelmeinender Gestalten ist und nur hier, auf dem kleinen Hof inmitten des Waldes, wären sie sicher. Eines Tages wird er von einer mysteriösen Krankheit befallen. Trotz seiner Warnungen macht sich Anna auf, ein Heilmittel zu finden.

So weit, so Rotkäppchen.

Natürlich lässt das Übel nicht lange auf sich warten. Kaum hat Anna einen Fuß in den Wald gesetzt, lauert ihr schon eine böse Hexe auf. Schwupps – finden wir uns in einem Zimmer im Turm der Hexe tief im Wald wieder. Das Zimmer ist zwar voller Plüschtiere und rosafarbener Tapeten. Das kann uns aber natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hexe Übles im Schilde führt. Die seltsame Maschine und die Überwachungsanlage, über die die Hexe uns beobachtet und uns Anweisungen gibt – NSA lässt grüßen –, lässt Schlimmes befürchten. Das Experiment der Hexe bringt in Anna ein magisches Talent hervor, das  wohl der Grund dafür ist, dass ihr Großvater sie abgeschirmt hat: Anna besitzt die Fähigkeit der Telekinese. Genau an diese Fähigkeit will die Hexe heran. Warum, bleibt zunächst unklar.

Ist aber auch egal. Tagesordnungspunkt Nummer Eins ist, aus dem Turm zu entkommen und das Heilmittel für Opi zu finden.

MacGyver für Arme

Die Rätsel, vor die uns Anna´s Quest stellt, sind durchgehend solide. Um die Telekinese-Absaug-Maschine für unsere Zwecke zu manipulieren, schneiden wir etwa dem Einhorn-Plüschtier sein Horn ab und hebeln damit die Abdeckung der Maschine auf. Den Babydrachen, den wir auf dem Dachboden des Turms finden, benutzen wir, um dem Zauberkessel, den wir für einen Schutzzauber brauchen, Feuer unterm Metall zu machen. Solides Rätselraten, aber für eingeschworene Adventure-Spieler kaum eine Herausforderung. Erst zur Mitte des Spiels legt der Schwierigkeitsgrad etwas zu.

Sporadisch eingestreut sind außerdem eine Handvoll Minispiele. So müssen wir etwa eine Melodie richtig nachspielen, damit sich eine geheime Tür öffnet. Das ist unterhaltsam, aber nicht gerade innovativ. Minispiele mit Melodierätseln haben wir schon anderswo und besser inszeniert gesehen: Man denke nur an das legendäre Banjo-Duell aus der Fluch von Monkey Island oder die Sesam-öffne-dich-Melodie aus Dreamfall Chapters. Immerhin: Wer mit Minispielen so gar nichts am Hut hat oder wessen Geduld ungefähr so ausgeprägt ist wie die Liebenswürdigkeit der bösen Hexe – nämlich gar nicht –, der kann diese Sequenzen überspringen. Das ist einerseits eine praktische Option. Andererseits nimmt es den Rätseln aber auch ein großes Stück Relevanz: Wenn es sowieso egal ist, ob wir das Minispiel spielen oder nicht, warum es dann überhaupt erst reinpacken? Mit einem Umfang von etwa zwölf Stunden Spielzeit hat es Anna´s Quest eigentlich nicht nötig, Elemente wie Minispiele als Zeitfresser einzubauen.

Die Steuerung dagegen fällt angenehm minimalistisch aus. Mit Rechtsklick betrachten wir Gegenstände, mit Linksklick interagieren wir. Zusätzlich gibt es mit der Leertaste die obligatorische Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-Hilfsfunktion, die sämtliche Gegenstände markiert, mit denen wir interagieren können. Und dann ist da natürlich die Telekinese. Über einen Button auf dem unteren linken Bildschirm bzw. über die Schnellauswahl K kann Anna über ihre Telekinese mit Dingen interagieren. Dabei wird aber eine Menge Potential vergeben. Die Fähigkeit ist fast ausschließlich an banale Rätsel der Art Bringe-a-nach-b gebunden:

Wir müssen an eine Frucht kommen, die zu weit oben am Baum hängt? Telekinese! Wir müssen an ein Handtuch gelangen, das zu weit oben an einer Wäscheleine hängt? Telekinese! Wir müssen ein Formular erreichen, das zu weit oben – nun, you get what I mean! Hier wäre mehr Kreativität angebracht gewesen.

Schade ist außerdem die ausschließlich englische Sprachfassung, die einige Spieler verschrecken dürfte. Gerade, weil Daedalic Entertainment als deutsche Spieleschmiede ansonsten erstklassige deutsche Vertonungen liefert. Trotzdem: Die englische Vertonung ist durchweg gelungen. Annas mädchenhafte Stimme spiegelt die Gemütszustände exakt wieder: Ihre Empörung, als sie herausfindet, dass der Geist Joringel sie für seine eigenen Zwecke ausgenutzt hat; Ihre Unsicherheit in vielen Gesprächen, vor allem als der Teufel ihr den Spiegel ihrer eigenen Unzulänglichkeit vorhält. Ebenso passend ist die Stimme von Ben, unserem verwunschenen Gefährten: Ebenso weinerlich wie seine Art ist seine Stimme. Das kann nerven, passt aber leider einfach zu der Figur. Besonders unterhaltsam ist die Stimme der Hexe, die ständig zwischen säuselndem Überreden und cholerischen Wutausbrüchen schwankt. Nein, nein, sie wolle uns nicht grausam umbringen und dann verspeisen, weil wir ihr Experiment manipuliert haben. Sie wolle uns nur helfen, weil sie sich Sorgen mache. Ja, wirklich. Na klar. Wir tun natürlich den Teufel und lassen die verrückte alte bestimmt nicht in den Turm, in dem wir uns nun verbarrikadieren konnten.

Eine schwere Kindheit

Schließlich schaffen wir es, die Hexe zu überrumpeln und aus dem Turm zu entkommen. Gemeinsam mit Ben, einem sprechenden Teddybären der eigentlich ein verwunschener Junge mit Gedächtnisverlust ist, machen wir uns auf Anraten eines Zauberspiegels (ja, der Zauberspiegel) auf den Weg durch den Wald in das Dorf Wunderhorn, wo es einen Zauberer geben soll, der das Heilmittel für Annas Großvater kennt. Der Zauberer entpuppt sich als Zauberin und trägt uns auf, drei magische Dinge zu finden, mit deren Hilfe sie das Heilmittel herstellen könnte. Die Aufgabe ist, wie üblich, eigentlich unlösbar und schon gar nicht von einem kleinen Mädchen zu bewältigen. Natürlich schaffen wir es trotzdem irgendwie, die magischen Dinge zu beschaffen.

Dabei überlisten wir eine kinderfressende Hexe, einen misanthropischen Einsiedler und eine Horde tödlicher Sirenen, die eine Schwäche für klassische Musik haben.

Leider aber stellt sich heraus, dass die Zauberin wiederum uns überlistet hat und in Wahrheit die böse Hexe ist. Zu allem Überdruss ist sie auch noch die zukünftige Königin, nachdem die wahre Königin – ihre Schwester – verschwunden ist. Wer sie hat verschwinden lassen, das kann sich jetzt wohl jeder selbst ausrechnen. Nach diesem Twist werden wir kurzerhand ins Verlies geworfen, das die Hölle ist.

Also – im wahrsten Sinne des Wortes. Wir landen in der Hölle. Und müssen den Teufel selbst überlisten.

che Rolle Anna im bösen Plan der Hexe spielt, die Herrschaft an sich zu reißen und was das mit der mysteriösen Krankheit des Großvaters und dem sprechenden Bären Ben zu tun hat, wird erst nach und nach klar und würde an dieser Stelle zu viel verraten. Soviel aber sei gesagt: Anna´s Quest macht es sich nicht einfach. Das Schwarz-Weiß klassischer Märchenerzählungen – die Hexe ist schlicht böse und der Held gut und am Ende kriegt die Hexe was sie verdient – wird komplett ausgehebelt. Wir lernen, dass die böse Hexe aus dem Turm einen Namen hat: Winfriede, auch „Winnie“ genannt. Wer so heißt, kann ja eigentlich nicht richtig böse sein. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass Winfriede nicht immer die alte, grantige Gestalt war, die sie jetzt ist. Wie sie dazu geworden ist, können wir in einem kurzen, aber intensiv inszenierten Kapitel am Ende sogar selbst nachspielen.

Coming of Age im Märchenland

Anna´s Quest ist vor allem eine Geschichte über das Erwachsenwerden und darüber, dass die kindliche Vorstellung von der Welt und so, wie sie tatsächlich ist, oft nicht zusammenpassen. Auf ihrer Reise hilft Anna, wo sie kann. In ihrer unschuldigen, empathischen Art versucht sie noch, der hinterletzten Märchengestalt in Not zu helfen. Einige meinen es gut mit ihr. Andere nicht. Viele benutzen Anna für ihre eigene Agenda. Es ist herzzerreißend mit anzusehen, wie Anna mit ihrer Selbstlosigkeit allein auf weiter Flur ist. Anna´s Quest ist ein Coming-of-Age-Spiel. Das ist seine Stärke. Das macht es interessant. Genau das ist es aber auch, was den Spieler manchmal in den Wahnsinn treibt. Annas Naivität ist teilweise schmerzhaft. Man möchte ihr zurufen: „Wie naiv kann man sein!“ und sich den Dialogoptionen gänzlich verweigern, weil sie in ihrer Gutmütigkeit einfach zu eingeschränkt sind.

Und die Moral von der Geschicht´

Die Stimmung in Anna´s Quest macht die teilweise schwer zu ertragende Naivität der Hauptfigur und die kaum herausfordernden Rätsel aber wett. Die Märchenwelt ist hübsch gezeichnet, auch wenn sie sehr viel abstrakter ausfällt und nicht an die melancholische Stimmung eines The Whispered World heranreicht.

Gerade weil Anna´s Quest optisch so süßlich inszeniert ist, bleiben die sehr ernsten Themen, die angesprochen werden, im Gedächtnis. Hinter der süßen Kinderfassade bricht Desillusionierendes hervor: Ruinierte Kindheiten, berechnende Menschen und die beunruhigende Vorahnung, dass man manchmal weniger Einfluss auf das eigene Schicksal hat als man hofft.

Und vor allem: Dass niemand einfach nur so böse ist. Anna´s Quest schlägt sich bis zuletzt auf keine Seite. Zum Schluss bleibt eine Szene im Gedächtnis: Der Großvater erklärt Anna, dass es draußen Menschen gebe, die böse seien, die versuchen würden, sie auszutricksen. Anna fragt beunruhigt, ob sie denn dann auch böse sei, weil sie einmal versucht hat, den Großvater mit einer Lüge auszutricksen. Er lacht und meint, dass sie deswegen natürlich nicht böse sei. Er und sie, sie seien die Guten. Sie machen nur manchmal Fehler. Darauf fragt Anna: „Dann machen manche Menschen, von denen wir glauben, dass sie böse sind, vielleicht manchmal auch einfach nur Fehler?“ („Well, some people we think are bad might just be making mistakes, then?“). Wenn das kein Spruch fürs Poesiealbum der Lebensweisheiten ist, dann will der untote Piratenkapitän LeChuck nicht Gouverneurin Elaine zur untoten Braut!